Die Rede war mit Spannung erwartet worden, weil quasi ganz Europa auf Hilfen wartet, um den Höhenflug der Energiepreise abzumildern. Ursula von der Leyen wurde von einem Ehrengast ins Halbrund begleitet: Olena Selenska, die Ehefrau des ukrainischen Präsidenten, war extra nach Straßburg gekommen, um der Rede zur Lage der Union beizuwohnen.
Fundamentale Kritik am russischen Angriffskrieg
Von der Leyen erneuerte zunächst noch einmal ihre messerscharfe Fundamentalkritik am russischen Überfall auf die Ukraine. Die ersten Leidtragenden seien natürlich die Menschen in der Ukraine. Aber hier gehe es um mehr als das. "Dies ist nicht nur ein Krieg Russlands gegen die Ukraine", sagte von der Leyen.
"Das ist ein Krieg gegen unsere Energieversorgung, ein Krieg gegen unsere Wirtschaft, ein Krieg gegen unsere Werte und ein Krieg gegen unsere Zukunft". Um es auf den kleinsten Nenner zu bringen: Hier gehe es um einen Angriff einer Diktatur auf die Demokratie als solche.
"Härteste Sanktionen, die die Welt je gesehen hat"
Die EU-Kommissionsvorsitzende würdigte zunächst den "heldenhaften Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer", die die Souveränität ihres Landes mit aller Entschlossenheit verteidigten. Doch auch die EU habe ihren Beitrag geleistet. Man habe nicht nur die Ukraine nach Kräften unterstützt, sondern auch gegen Russland die "härtesten Sanktionen verhängt, die die Welt je gesehen hat".
"Und diese Sanktionen wirken", betonte von der Leyen. Das russische Finanzsystem liege auf der Intensivstation, die Wirtschaft stehe am Abgrund. "Und damit das klar ist: Diese Sanktionen werden nicht zurückgeschraubt", sagte von der Leyen demonstrativ kämpferisch.
Zufallsgewinne sollen abgeschöpft werden
Nur wisse sie natürlich auch, wie sehr die Bürger und Unternehmen in Europa unter der aktuellen Situation litten. Vor allem die hohen Energiepreise setzten den Menschen gehörig zu, Millionen warten auf Unterstützung. Deswegen kündigte sie jetzt schon einmal eine erste Batterie an Hilfsmaßnahmen an. Zum Beispiel sollen die Gewinne von Konzernen gedeckelt werden, die billigen Strom herstellen. Gemeint sind also Stromhersteller, die Elektrizität zum Beispiel aus Kernkraft oder auch aus erneuerbaren Energien gewinnen.
Sie kassieren ohne eigenes Zutun plötzlich Monstergewinne, mit denen sie nie rechnen konnten. Das mache sie gewissermaßen zu Kriegsgewinnern, auf dem Rücken der Verbraucher. Das könne in diesen Zeiten nicht richtig sein. Und deswegen sei es wichtig, diese Zufallsgewinne all jenen zukommen zu lassen, die das Geld wirklich brauchen. Diese Zufallsgewinne sollen also abgeschöpft werden. Auch Gas- und Ölkonzerne sollen dazu verpflichten werden, eine Solidaritätsabgabe zur leisten. "Unser Vorschlag wird mehr als 140 Milliarden Euro für die Mitgliedstaaten bringen, um die Not unmittelbar abzufedern", versprach Ursula von der Leyen.
Das Wort "Gaspreisdeckel" nicht genannt
Das allein sind fast schon radikale Vorschläge, die jedenfalls so vor einigen Wochen noch undenkbar gewesen wären. Vor allem die belgische Regierung hatte aber in den letzten Wochen auch noch für einen Gaspreisdeckel getrommelt. Ursula von der Leyen nahm dieses Wort nicht in den Mund. Nur so viel: Wir müssen an niedrigeren Gaspreisen arbeiten. Einerseits müsse man dabei die Versorgungssicherheit gewährleisten und auf der anderen Seite die Wettbewerbsfähigkeit. Im Klartext heißt das wohl: Bei einem Preisdeckel muss man aufpassen, dass sich die Lieferanten nicht von Europa abwenden, um ihr Gas anderswo teurer zu verkaufen.
Ursula von der Leyen richtete aber auch den Blick nach vorn. Die EU werde die Umstellung auf Wasserstoff noch entschlossener vorantreiben. Auch werde man eine langfristige Rohstoffstrategie entwickeln müssen. Lithium und die seltenen Erden seien das Gas von morgen. Und da sei man im Moment allzu abhängig von China. "Man sollte aber dieselben Fehler nicht zweimal machen", sagte von der Leyen.
Insgesamt war es eine mit Ideen und Vorschlägen vollgepackte Rede, wobei Ursula von der Leyen da eigentlich immer nur ein Ziel vor Augen hat: die Stärkung der EU und damit der innereuropäischen Solidarität. Das Wort "Solidarität" nahm sie gefühlt mehr als 20 Mal in den Mund. Russland wird uns auf die Probe stellen und versuchen, uns auseinanderzudividieren, sagte von der Leyen. "Wenn wir mutig und solidarisch sind, dann wird Putin aber scheitern. Und die Ukraine und die EU, wir werden gewinnen."
Roger Pint