"Das war eine Marathonsitzung". Nun, das hätte Ratspräsident Charles Michel gar nicht sagen müssen, das hat jeder gemerkt. Mehr als 21 Stunden hatten die Staats- und Regierungschefs verhandelt, gestritten gefeilscht. Statt, wie sonst üblich, die Arbeit auf zwei Tage zu verteilen, hat man es diesmal vorgezogen, durchzuziehen.
Eigentlich hatte alles noch vielversprechend begonnen. Schon am Donnerstagabend kam überraschend schnell die Einigung im Haushaltsstreit. Ungarn und Polen hatten ja das EU-Budget blockiert, inklusive der milliardenschweren Corona-Hilfen, auf die einige, vor allem südliche Länder schon sehnlichst warten. Grund für die Blockade: Warschau und Budapest lehnten den geplanten Rechtsstaatsmechanismus ab.
Haushaltseinigung
Die deutsche Ratspräsidentschaft hatte aber mit einem Kompromissvorschlag den Weg hin zu einer Lösung gepflastert. Der sah eine Zusatzerklärung vor. Darin wird festgelegt, wie sich beide Länder gegen die Anwendung der Strafmaßnahmen wehren können. Die einen beklagen jetzt, dass der Prozess damit verzögert wird, andere hingegen freuen sich einfach nur, dass der Mechanismus jetzt tatsächlich existiert. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte ihrerseits eher das große Ganze im Blick. "Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, dass wir es jetzt noch mit gemeinsamer Anstrengung geschafft haben, dem Parlament den Haushalt überweisen zu können", so Merkel. ""Das war ein Riesenstück Arbeit."
Ein Riesenstück Arbeit für einen Riesenbatzen Geld. Jetzt wird der EU-Haushalts nämlich losgeeist: über eine Billion Euro für die nächsten sieben Jahren. Und dann eben obendrauf auch die 750 Milliarden Euro, die zur Bewältigung der Corona-Krise bereitgestellt werden. Mindestens 30 Prozent dieser Gelder müssen aber in, sagen wir, "grüne" Projekte fließen. Das war auch der deutschen Ratspräsidentschaft sehr wichtig. "Wir wollen ja nicht nur ein Konjunkturprogramm auflegen, sondern ein Konjunkturprogramm, das uns in die Zukunft führt", sagte Merkel.
Verschärftes Klimaziel 2030
Und damit war man gleich beim zweiten der heiklen Gipfelthemen. Die EU will nämlich die Energiewende noch energischer vorantreiben. Zwar war man sich da im Wesentlichen einig - alle Länder waren bereit, das Klimaziel deutlich nachzuschärfen: eine Senkung des CO2-Ausstoßes um 55 Prozent bis 2030 - , nur: da lag der Teufel ganz offensichtlich im Detail. "Ja, man muss ehrlich sein, das war der Hauptgrund, weswegen man die Nacht durchverhandeln musste, sagte Ratspräsident Charles Michel. "War das leicht? Nein, das war es nicht."
Nicht leicht, weil vor allem die osteuropäischen Länder hier auf der Bremse standen. Grob gerafft: Im Osten kommt ein erheblicher Teil des Stroms noch aus Kohlekraftwerken. Vor allem Polen verlangte denn auch mehr finanzielle Hilfen, um die Kosten für diese Energiewende überhaupt stemmen zu können. "Wir werden die Ausgangsposition der einzelnen Länder berücksichtigen", betonte Charles Michel nach Abschluss der Beratungen. Hier gehe es letztlich um Gerechtigkeit und Fairness.
Am Ende wurde das 55-Prozent-Klimaziel aber dann doch in Brüsseler Beton gegossen. "Jetzt sind wir auf Kurs mit Blick auf das eigentliche Ziel: Klimaneutralität im Jahr 2050", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
"Das ist eine Chance für uns alle", sagte auch Premierminister Alexander De Croo. Jetzt liegt es an den europäischen und auch belgischen Unternehmen, neue Technologien zu entwickeln, um hier weltweit die Führung zu übernehmen. De Croo drückte es so aus: Belgien allein kann die Welt nicht retten, aber belgische Technik kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten.
Guter Tag für Europa
Eine lange Nacht, die sich also gelohnt hat: Einige Dauerbrennerthemen sind jetzt erstmal vom Tisch. Und das brachte Ursula von der Leyen fast schon ins Schwärmen: "Wir haben den Sieben-Jahres-Haushalt, wir haben Next-Generation-EU, wir haben das Klimaziel für 2030 - was für ein Tripel. Das ist beeindruckend und es ist ein guter Tag für Europa". Zumal sich die EU-Länder auch noch einmal bei der Bekämpfung der eigentlichen sanitären Krise aufeinander abgestimmt haben. Unter anderem einigte man sich auf ein einheitliches Vorgehen bei der anstehenden Impfkampagne.
Denn, apropos, und das rief Ratspräsident Michel quasi stellvertretend für alle Beteiligten noch einmal in Erinnerung: Das war doch insgesamt ein außergewöhnliches Jahr; im wahrsten Sinne des Wortes. Die Corona-Krise hat vieles über den Haufen geworfen, auf den Kopf gestellt. Am Ende dieses verrückten Jahres habe die EU jetzt aber noch einmal ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt.
Roger Pint