"Sie und Ihre Mitverschwörer sind für schuldig befunden worden, der Teilnahme an einem Verbrechen, das in seiner Größe und Dreistigkeit in unserem Land kein Beispiel hat. Ich werde von mir aus alles tun, damit es auch das letzte in seiner Art sein wird. Das Gericht legt Wert darauf, diesen ungeheuerlichen Affront gegen den Generalpostmeister Ihrer Majestät aller falschen Romantik zu entkleiden. Ich sehe mich daher gezwungen, Strafen auszusprechen, die der Tat angemessen sind." Richter Sir Edmund Davies kannte keine Gnade mit den Posträubern, als er ihnen im April 1964, nur acht Monate nach ihrem Überfall auf einen Geldzug, das Urteil verkündete. Sieben der Angeklagten sollten für 30, vier der Täter für 20 und mehr Jahre hinter Gitter.
Der Chef der Bande, Bruce Reynolds, befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Flucht. Er wusste, dass auch ihm ein ähnlich hohes Urteil drohte, wenn man ihn schnappte.
8. August 1963. Morgens, kurz vor halb fünf. Bei Scotland Yard in London geht ein Anruf ein. Ein aufgeregter Mann meldet, dass der Postzug von Glasgow nach London in der Nähe von Cheddington, rund 35 Meilen vor London, überfallen wurde. Die lokale Polizei wird alarmiert und rückt zum Tatort aus.
Eine 15-köpfige Bande, angeführt von dem damals 31-jährigen Bruce Reynolds, hatte den Zug, der Banknoten von Glasgow zur Zentralbank nach London bringen sollte, mitten auf der Strecke durch ein manipuliertes Haltesignal gestoppt. Während einige der Räuber das Personal in Schach hielten, luden andere 128 prall gefüllte Geldsäcke in bereit stehende Fluchtfahrzeuge.
Die Beute der Bande: 2,6 Millionen britische Pfund Sterling, umgerechnet circa 56 Millionen Euro. Eine unvorstellbar hohe Summe. Und ein unglaublicher Coup, den Reynolds mit seinen Männern über ein Jahr lang intensiv vorbereitet hatte. "Man muss sich in allen Details hundertprozentig sicher sein, wenn man das perfekte Verbrechen durchführen will. Wir wussten um das Risiko, aber es gab eine große Begeisterung in der Bande. Jeder wollte an diesem bedeutenden Ding beteiligt sein", sagte Bruce Reynolds viele Jahre nach dem Überfall in einem Fernsehinterview.
Weil die Posträuber lediglich mit Schlagstöcken bewaffnet waren, um möglichst ohne Blutvergießen vorgehen zu können, zeigten viele Menschen Sympathie mit den Gangstern und ihrem kühnen Gaunerstück.
Die Staatsmacht war weniger amüsiert und setzte eine bis dahin noch nie dagewesene Fahndungsmaschinerie in Gang. Leiter der Ermittlungsgruppe bei Scotland Yard war Tommy Butler, der alles daran setzte, die Bande zu fangen.
Nachdem Scotland Yard Fahndungsplakate veröffentlicht und eine Belohnung von über 200.000 Pfund ausgesetzt hatte, gingen unzählige Hinweise bei den Ermittlern ein. Ein Großteil der Bande konnte daraufhin festgenommen werden.
Bruce Reynolds jedoch ging der Polizei erst fünf Jahre nach dem Raub ins Netz. Er war mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn Nick nach Mexiko geflohen. Als die Familie 1968 nach England zurückkehrte, wurde Reynolds an seinem neuen Wohnort an der Kanalküste von der Polizei aufgespürt.
Die spektakuläre Verhaftung seines Vaters ist für Nick Reynolds auch heute noch in wacher Erinnerung. "Es war ungefähr sieben Uhr morgens, als es an der Haustüre klingelte. Ich öffnete die Türe und sofort stürmten zwanzig, dreißig Polizisten an mir vorbei. Einige liefen die Treppe hoch, angeführt von einem grauhaarigen Mann. Das war Tommy Butler, der meinen Vater fünf Jahre lang gejagt hatte. Als mein Vater abgeführt wurde, schaute ich aus dem Fenster und sah eine riesige Menschenmenge vor unserem Haus, darunter unzählige Fotografen und Presseleute."
Am 14. Januar 1969 wurde Bruce Reynolds der Prozess gemacht. Obwohl er seine Tat bereute und sich für schuldig bekannte, verurteilte ihn der Richter zu 25 Jahren ohne Bewährung. In einer TV-Dokumentation sagte Bruce Reynolds später zu diesem Urteil: "Jemandem für ein zugegebenermaßen schweres Vergehen an der Gesellschaft, das aber kein Gewaltverbrechen war, doppelt so viel zu geben wie für einen Mord, hielt ich für einen großen Fehler. Das sprengte jedes Maß."
Im Juni 1978 kam Reynolds im Zuge einer Strafrechtsreform aus dem Gefängnis frei. Er veröffentlichte seine erfolgreiche Autobiographie und arbeitete als Autor für verschiedene Zeitschriften. Am 28. Februar 2013 starb der Kopf der legendären Posträuber im Alter von 81 Jahren.
Alfried Schmitz