Weitere Gerichtsverfahren, eine Untersuchung des NOK und ein Rücktritt: Mit dem spektakulären Urteil von bis zu 175 Jahren Haft ist der Skandal um den ehemaligen US-Turnarzt Larry Nassar noch lange nicht beendet. Bereits am kommenden Mittwoch erwartet den 54-Jährigen eine weitere Gefängnisstrafe im US-Bundesstaat Michigan, nachdem er sich in einem anderen Prozess schuldig bekannt hatte, drei junge Turnerinnen missbraucht zu haben.
Das Nationale Olympische Komitee der USA (USOC) kündigte derweil eine eigene, unabhängige Untersuchung an. Sie solle aufklären, warum Missbrauchsfälle eines derartigen Ausmaßes so lange nicht verfolgt worden seien, schrieb USOC-Chef Scott Blackmun am Mittwoch (Ortszeit) in einem Offenen Brief an das Team USA.
Blackmun erklärte, das NOK erwäge weiterhin, dem Turn-Verband USA Gymastics die Zulassung als nationalem Verband zu entziehen, sollte dieser bei der angestrebten Restrukturierung nicht umfänglich kooperieren. Bisher habe man auf diesen Schritt verzichtet, weil davon viele Vereine und Athleten betroffen seien, die mit dem Missbrauchsskandal nichts zu tun hätten. Am Montag war die Spitze der Geschäftsführung des Turn-Verbandes wegen Vorwürfen zurückgetreten, Nassars Machenschaften lange Zeit gedeckt zu haben.
Die Aussagen vor Gericht hätten die Tragödie aus Sicht der Opfer und Überlebenden zusammengefasst. "Und sie waren schlimmer als unsere eigenen schlimmsten Befürchtungen", schrieb Blackmun.
Fragen richten sich auch an die Michigan State University, an deren Fakultät Nassar Jahrzehnte tätig war. Präsidentin Lou Anna Simon trat nach dem Urteil am Mittwoch zurück und reagierte damit auf entsprechende Forderungen.
Abschreckende Signalwirkung
Richterin Rosemarie Aquilina und die Opfer Nassars erhoffen sich von dem historischen Spruch auch eine abschreckende Signalwirkung. "Ich habe gerade Ihr Todesurteil unterzeichnet", hatte Aquilina bei Urteilsverkündung an Nassar gerichtet gesagt. Sie bestimmte, dass Nassar mindestens 40 Jahre im Gefängnis bleiben muss. Das Strafmaß dieses Prozesses addiert sich zu einem anderen Urteil. Dort war Nassar wegen des Besitzes von Kinderpornografie bereits zu einer Haftstrafe von 60 Jahren verurteilt worden. Außerdem sind eine Reihe von Zivilverfahren anhängig, mehr als 130 Frauen und Mädchen wollen Nassar gerichtlich belangen.
Die ehemalige Turnerin Rachael Denhollander hatte am Mittwoch die letzte Sitzung einer siebentägigen Anhörung in Lansing (Michigan) mit flammender Kritik begonnen. "Für uns als Gesellschaft bedeutet das: Das kommt davon, wenn verantwortliche Erwachsene nicht angemessen auf Enthüllungen sexuellen Missbrauchs reagieren. Das kommt davon, wenn Institutionen eine Kultur schaffen, in der ein Raubtier unerschrocken und ohne Einschränkung gedeihen kann."
Denhollander spielte darauf an, dass die Lawine der Anschuldigungen gegen Nassar sich erst viele Jahre nach den Taten Bahn gebrochen hatte. Auslöser waren mutige Zeugenaussagen seinerzeit von Nassar missbrauchter Turnerinnen und die hartnäckige Berichterstattung der Zeitungen "Indy Star" und "Lansing State Journal" (Michigan).
Die Richterin dankte Denhollander für den Mut ihrer ersten Aussage: "Sie sind eine der tapfersten Personen, die ich jemals in meinem Gerichtssaal gesehen habe. Mit Ihnen begann die Flutwelle."
Bis zum Mittwoch waren bei dem Prozess 156 Mädchen und Frauen angehört worden, darunter auch mehrere Olympiasiegerinnen. Sie schilderten die kriminellen Machenschaften des Mediziners in allen Einzelheiten. Nassar hatte sich im November 2017 schuldig bekannt.
dpa/jp/rs/sr