Schönspielen war gestern. Die Seleçao besticht bei dieser WM durch Härte, spielt mit Herz, Leidenschaft und totalem bis übertriebenem Engagement. 96 Foulspiele und zehn Gelbe Karten bisher sind mit Abstand der Höchstwert aller WM-Teilnehmer und zeigen auch, unter welchem enormen Druck Brasilien steht.
Auch wenn am Dienstagabend im Estádio Mineirão in Belo Horizonte eine gelbe Wand aus 60.000 Menschen wartet, Brasilien seinen Heimvorteil voll auskosten wird und die Seleçao zuletzt leichte Fortschritte in ihrem Spiel erkennen ließ - die deutsche Mannschaft geht keineswegs als Außenseiter in dieses Halbfinale.
Der Stil der deutschen Mannschaft ist in den letzten Wochen reifer und erwachsener geworden. Davon zeugt auch der pragmatische 1:0-Sieg im Viertelfinale gegen Frankreich. Joachim Löws Mannschaft hat den schwierigen Spagat zwischen Offensivlust und defensiver Sachlichkeit mit kleineren Ausnahmen gut hinbekommen.
Brasilien konnte bislang noch nicht überzeugen. Die Abhängigkeit von Neymar war augenscheinlich zu groß. Sein Ausfall nimmt den Brasilianern in der Offensive gleich zwei wichtige Stilmittel: Zum einen war es bisher vorwiegend Superstar Neymar, der im letzten Angriffsdrittel für Torgefahr sorgte. Und zweitens lebte das Spiel der Seleçao vom Individualismus und seinen spontanen Eingebungen in der Offensive.
Fred war bisher als einziger Stürmer ein Schwachpunkt, Oscar musste zuletzt viele Defensivaufgaben übernehmen. Nur die Formkurve des Kraftpakets Hulk zeigt nach oben. Die Rückkehr des im Viertelfinale gelbgesperrten Luiz Gustavo im defensiven Mittelfeld dürfte den Brasilianern mehr Stabilität verleihen.
Ein Pluspunkt - und zugleich auch ein großes Problem der Brasilianer - ist die Rolle der beiden Außenverteidiger. Marcelo und Dani Alves oder Maicon treiben unermüdlich nach vorne an, ganz anders als etwa die gelernten Innenverteidiger aufseiten der deutschen Mannschaft. Brasilien spielt ziemlich europäisch, vertraut im Angriff aus seine gnadenlose Effizienz und die gefürchteten Standards. Das schnelle Umkehrspiel hat sich längst etabliert.
Mal sehen, wie die Brasilianer mit der Drucksituation klar kommen werden, und ob die DFB -Elf erneut eine so effiziente Leistung abliefern kann wie gegen Frankreich. Deutschland will auf jeden Fall mehr als wieder nur ein Spiel um Platz drei, wie schon 2006 und 2010. Ein dritter Platz würde den Ansprüchen der goldenen Generation nicht gerecht und wäre sicher eine herbe Enttäuschung bei unseren Nachbarn.
Der Lohn ist das Ticket für das Finale gegen Argentinien oder die Niederlande. Die Frage ist nun, ob es ein südamerikanisches oder europäisches Finale wird, oder ob die Kontinentalfrage bei dieser WM erst im Finale entschieden wird. Egal welche Kombination am 13. Juli im Maracanã-Stadion herauskommen wird, ein Klassiker wird dieses Spiel allemal.
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