Herr Marckhoff, wie deutlich sind die Ergebnisse ihrer Studie?
Wir haben das in jedem Fall in der Ausprägung nicht erwartet. Uns hat es schon überrascht, dass der Rückgang so deutlich ist. Und dann muss man so ein bisschen unterscheiden. Es gibt Kinder, die kommen da ganz gut durch. Das sind häufig die, die ohnehin immer schon viel Sport getrieben haben, die aus sportlichen, sportbegeisterten Familien kommen. Dann haben wir aber eben auch Kinder - und das ist eigentlich die Gruppe, die uns am meisten Sorgen macht, das waren jetzt in unserer Studie 25 Prozent der Kinder - die sich eben in dem Lockdown nahezu überhaupt nicht mehr bewegt haben, also völlig die Bewegung runtergefahren haben. Und das ist schon erheblich. Vor dem Lockdown waren es etwa fünf Prozent. Das heißt, wir haben eine Verfünffachung in dieser Gruppe. Und da müssen wir schon davon ausgehen, dass das sowohl körperliche als auch psychische Folgen hat.
Welche Folgen kann das denn haben?
Also erstmal zum Bereich des Körperlichen: Da haben wir vor allem diesen Aspekt des "metabolischen Syndroms". Das sind alle Erkrankungen, die mit dem Stoffwechsel zu tun haben: also der frühe Typ-zwei-Diabetes, Übergewicht, und verschiedene andere Stoffwechsel-Disbalancen, die da entstehen können. Wir haben Auswirkungen auf das Knochen- und Skelett-System. Also die Knochendichte kann abnehmen, wenn ich wirklich so ganz radikal die Bewegung herunterfahre. Das Herz-Kreislauf-System, die Leistungsfähigkeit lässt deutlich nach.
Und im psychischen Bereich stellen wir eine Zunahme an depressiven Symptomen fest. Ängste nehmen zu, Lebenszufriedenheit nimmt deutlich ab. Das zeigen auch andere Studien, zum Beispiel eine Studie aus Hamburg, die sich rein mit der psychischen Situation der Kinder beschäftigt hat. Was wir zeigen konnten, ist, dass es einen engen Zusammenhang gibt - den wir eben auch statistisch nachweisen konnten - zwischen der Bewegung und dem psychischen Wohlbefinden.
Wir haben da starke Korrelationen gefunden, wobei wir jetzt nicht genau sagen können, in welche Richtung die wirken, wie das halt bei Korrelationen so ist. Um ein Beispiel zu nennen: Kinder, die auffällig sind bei den Indikatoren für Depression und Angststörung, die machen deutlich weniger Sport und bewegen sich deutlich weniger als andere. Das kann aber in beide Richtungen wirken. Da kann die Erkrankung oder die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit zuerst sein. Und die führt dann über einen Motivationsmangel hin zu wenig Bewegung. Es kann aber eben auch umgekehrt sein.
Und jetzt haben wir ja diese Situation eines "natürlichen Experimentes". Eigentlich hat es das vorher so nie gegeben, dass mal eine ganze Bevölkerung über so viele Wochen zur Passivität verurteilt wurde. Und darum gehen wir schon davon aus, dass der Bewegungsmangel vielfach am Anfang steht und dann die gesundheitlichen Auswirkungen folgen. Also ich bewege mich zu wenig. Und das macht mich unzufrieden. Das macht mich depressiv. Das verändert meine Selbstwahrnehmung, mein Körperbild. Auch das stellen wir fest, auch was Gewichtszunahme angeht. Also es ist ein bunter Strauß von Folgen.
Es heißt ja immer: Sport ist gesund. Jetzt im Lockdown ist der Breitensport ja so gut wie heruntergefahren, Bewegungsmöglichkeiten sind deutlich eingeschränkter. Können Sie nachvollziehen, dass der Sport so gut wie gar keine Lobby hat und dieser gesundheitsfördernde Aspekte des Sports gar nicht berücksichtigt worden ist?
Also ich glaube nicht, dass er gar nicht berücksichtigt worden ist. Zum Beispiel ist in Deutschland bei den Schulöffnungen immer auch der Sport mitgedacht worden. Es ist immer explizit zumindest darauf hingewiesen worden, auch vom Schulministerium, dass Sportunterricht stattfinden soll. Ein wichtiger Schritt auch, dass im zweiten Shutdown die Spielplätze offengelassen wurden, die im ersten Shutdown ja gesperrt waren. Also ich glaube, man hat das schon durchaus auf dem Schirm und ich kann da nur spekulieren, aber ich nehme an, dass es in der Risikoabwägung - Was ist wichtiger, der Infektionsschutz oder die sportliche Betätigung? - dass man sich da für den Infektionsschutz entschieden hat.
Als Sportler liegt mir da natürlich der Sport immer sehr am Herzen und ich würde mich freuen, wenn die Kinder schnell wieder auch in ihren Vereinen Sport treiben könnten. Letztendlich kann ich es aber nicht beurteilen, was die Infektionslage zulässt. Es ist im Prinzip die Epidemiologie, die da die Entscheidungen treffen muss. Ich kann nicht beurteilen, ob das notwendig war oder nicht. Was ich sehen kann ist: So, wie es ist, hat es Folgen gesundheitlicher Art auf die Kinder. Ob die schlimmer sind als das, was man verhindert durch den Shutdown, kann ich nicht beurteilen.
Ist dann vielleicht jetzt auch ein guter Zeitpunkt, um Schulsport nochmal neu zu überdenken? Schulsport kommt ja oftmals zu kurz, soll er vielleicht in Zukunft dann vermehrt auch in den Unterricht einfließen?
Ja, wir würden das in jedem Fall empfehlen. Wir empfehlen so eine Art Wiederbelebungsprogramm für den Sport. Auch im Zuge weiterer Lockerungen, wenn diese dann eben auch flächendeckend und langfristig kommen. Dass man dann ganz gezielt in den Schulen, in den Vereinen - vor allem da, wo eben auch wo man von staatlicher Seite eingreifen und steuern kann - dass man da Initiativen ins Leben ruft, die ganz aktiv die Kinder wieder in die Vereine holt. Dazu gehört Schulsport, also der Sportunterricht, aber auch die außer-unterrichtlichen Sportangebote wie zum Beispiel die Basketball-AG oder sowas in der Art. Dass man da ganz gezielt versucht, wieder die Kinder vom Sofa runter zu holen und in den Sport zurück.
Ich halte das für sehr wichtig und auch in der Klinik sehen wir das. Immer mehr Kinder kommen jetzt mit Beschwerden in die Klinik, die ursächlich auch mit dem Shutdown, mit den Kontaktbeschränkungen zu tun haben. Auch in dem Bereich wird es demnächst viel aufzuarbeiten geben. Es ist, glaube ich, ganz zentral, dass dieser Bewegungsaspekt immer mitgedacht wird. Dass der Lehrer im Unterricht das im Blick hat. Wenn die Kinder sich nicht konzentrieren können wie vorher, dass das möglicherweise damit zusammenhängt. Wenn Kinder zu ihren Hausärzten gehen und über unspezifische Symptome klagen, dass er da mitdenkt, dass es möglicherweise auch mit Bewegungsmangel zusammenhängt. Also ich glaube, das ist definitiv ein Thema, was uns noch ganz lange beschäftigen wird in den verschiedenen Professionen.
Sie haben den Bewegungsmangel festgestellt. Da wird es auch wahrscheinlich einen Unterschied geben zwischen der Stadt und Landbevölkerung, oder?
Da gehen wir von aus. Wir haben hier gut 1.000 Schüler im Regierungsbezirk Münster untersucht und da haben wir wenig städtische Ballungszentren. Deshalb haben uns auch die Ergebnisse überrascht, weil wir davon ausgehen, dass hier im Prinzip noch vergleichsweise viel Bewegung möglich sein müsste. Und wir wissen, dass in den städtischen Ballungszentren der Sport und sportliche Aktivität der Kinder und Jugendlichen viel stärker an die Vereinsstrukturen gebunden ist und an Angebote von Schulen. Deshalb gehen wir davon aus, dass dort die Effekte möglicherweise noch stärker sind, noch ausgeprägter.
Denn es hat auch immer mit dem sozialen Milieu zu tun, auch das konnten wir feststellen. Und zumindest das zeigt auch jetzt eine Studie aus Karlsruhe, dass der sozioökonomische Status einen erheblichen Einfluss hat. Also wenn ich ärmer bin, in beengteren Verhältnissen wohne, dann ist der Bewegungsmangel häufig noch ausgeprägter und damit dann eben auch die Folgen. Auch der Medienkonsum ist höher. Und all das zusammen trifft eben ärmere Menschen stärker auch als wohlhabendere.
Also kann man quasi abschließend nochmal sagen: Raus an die frische Luft. Das wird auf jeden Fall nicht schaden.
Genau. Auch alleine Sport machen oder eben mit einem Freund, das ist ja meistens noch erlaubt in den meisten Regionen, oder eben mit der Familie gemeinsam rausgehen, das ist ganz wichtig, um möglichst gesund da durchzukommen. Das kann den Vereinssport und die Geselligkeit, diesen sozialen Aspekt des Sportes, niemals ersetzen. Aber es ist die Notfall-Strategie, um da gut durchzukommen. Auf jeden Fall.
cr/km