Das war eine Überraschung gewesen, für den politisch interessierten Bürger: Das Verfassungsgericht kippt den Moralunterricht in seiner jetzigen Form. Der Anlass: eine Klage von Eltern, die sich gegen eine Etikettierung ihrer Kinder wehren. Gilt zwar nur für die Französische Gemeinschaft, erregt aber Aufmerksamkeit darüber hinaus.
Unter anderem hatte das Verfassungsgericht kritisiert, der Moralunterricht sei nicht neutral, wie das Dekret es vorschreibe. Es fußt auf dem Freidenkerdogma, im belgischen Politjargon als "libre examen" bekannt, also der vorurteilsfreien Prüfung. Voltaire und die Freimaurer grüßen. Hatte Belgien 1830 doch zwei Taufpaten: die Logen und die Katholiken, vereint gegen die protestantischen Holländer.
Da war wenig später der Weg frei für Schlagwörter wie das von der "Seele des Kindes" oder "der Schule ohne Gott". Es folgten der Schulkampf und Riesendemonstrationen in Brüssel und anderswo. Und in Ostbelgien?
Nun, Ende der Fünfziger und Anfang der Sechziger lag die Gemengelage hier anders, es konkurrierte das St. Vither Modell sozialer Chancengleichheit durch den Vorrang der Muttersprache mit dem Eupener Modell der gesellschaftlichen Aufstiegschancen durch forcierte Zweisprachigkeit. Dann mischte die 68er Revolution die Karten neu, selbst im Eupener Collège, wo der Direktor den amerikanischen Soziologen Marcuse den Lehren der Kirchenväter hinzufügte. Um ein Bild Freddy Derwahls zu zitieren: Ein "deutsches Gymnasium französischer Sprache in Konkurrenz zum Athenée Royal".
Im Rahmen des Tsunamis der Staatsreformen geschieht dann in der DG etwas, was ebenso befreiend wie richtungsweisend war, für innerbelgische Verhältnisse geradezu revolutionär, und deshalb umso befreiender: Dorfschulen von zuvor hermetisch abgeriegelten Netzen fusionierten, und als eine Autonome Hochschule kam, verpflichtete diese sich einer, so der amtliche Begriff, "artikulierten Pluralität".
Und Ende dieser Woche überraschte Minister Mollers mit der Aussage, der besagter Moralunterricht, der jetzt in der ganzen Frankophonie für Aufregung sorgt, werde schon seit geraumer Zeit überarbeitet.
Die DG mag nicht immer die fortschrittlichste Region sein, aber in zwei Bereichen ist sie in Belgien bahnbrechend: bei der dualen Ausbildung, auch in dieser Woche gesamtbelgisches Thema, und beim Durchbrechen frühbelgischer ideologischer Dämme im Schulwesen. Man darf gespannt sein, wie die Vorstellungen eines aufgewerteten Moralunterrichts in der DG sein werden. Und nebenbei gesagt, der alte, noch stets herrschende Begriff : "nicht-konfessionelle Sittenlehre" ist gar nicht so altmodisch, im Zeitalter des Internet-Mobbings!
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