Europa steckt in einer Sinnkrise, nicht erst seitdem die Staats- und Regierungschefs den Mitgliedstaaten einen strikten Sparkurs verordnet haben. Das Gleiche gilt für das "Europa im Kleinen", als welches sich die Euregio Maas-Rhein gerne bezeichnet. Also das mit der Sinnkrise. Denn auch wenn die europäischen Mittel für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Zeitraum 2014 bis 2020 weniger werden, rechnen die fünf Partnerregionen mit einer gewissen Kontinuität in Sachen Interreg-Förderung - auch weil sie sich mit der Zukunftsstrategie "EMR 2020" entsprechend vorbereitet haben.
Sie soll einen Ausweg zeigen aus der Sinnkrise der Euregio - oder aus der "pubertären Phase", wie es Herman Reynders, Gouverneur der Provinz Belgisch-Limburg, am Mittwoch in St. Vith ausdrückte - in ungewöhnlich scharfen Worten. Dabei müsste die Euregio Maas-Rhein diesen "Backfischjahren", wie es früher einmal hieß, längst entwachsen sein. Schon 1976 wurde sie als Arbeitsgemeinschaft zwischen den belgischen Provinzen Lüttich und Limburg, dem Süden von Niederländisch-Limburg und der Regio Aachen e.V. gegründet. Später kam die Deutschsprachige Gemeinschaft als eigenständiger Partner hinzu - und aus der Arbeitsgemeinschaft wurde im Jahr 1991 eine Stichting nach niederländischem Recht.
Wenn in den Folgejahren der Kölner Regierungspräsident Franz-Josef Antwerpes ostentativ mit dem Herrn "Mah-Reite" stritt oder Lüttichs Gouverneur zu "Boll-Land" verballhornte, dann hätte das Prädikat "pubertär" schon gut gepasst. Die Zeit dieses kurfürstlichen Gehabes ist für die Euregio Maas-Rhein vorbei. Dafür ist es stiller geworden um die Einrichtung - was nicht von Nachteil sein muss, denn über die Grenzen hinweg wurde viel "zusammengearbeitet", das steht außer Frage - auch dank und wegen der europäischen Fördergelder.
Von Anfang an tun aber alle so, als sei das nicht genug - als brauche es ein "euregionales Bewusstsein". Am Mittwoch wurde es wieder beschworen - vom neuen Vorsitzenden der Euregio Maas-Rhein, DG-Ministerpräsidenten Karl-Heinz Lambertz, und auch von anderen Rednern. Da muss als "Urvater" immer Karl der Große herhalten (und nächstes Jahr, zu seinem 1200. Todestag wird es noch schlimmer - versprochen). Oder - was für Teile gilt - die industrielle Vergangenheit. Oder zeitgemäßer die vergleichbaren Tragödien bei Ford Genk, Arcelor Mittal in Lüttich, Bombardier in Aachen oder Staples in Eupen. Dabei zeigen gerade diese Beispiele, dass jedem das Hemd näher ist als der Rock.
Was ist nicht alles unternommen worden, um euregionales Bewusstsein zu verbreiten: Tagungen, Konferenzen, Veröffentlichungen, immer mal wieder ein Austausch zwischen den Medien, "Euregio" hier, "Euregio" da, als Etikett genutzt von gewieften Geschäftsleuten - bis hin zum Brettspiel oder Autoaufkleber. Wetten, dass dennoch kaum einer der heute rund vier Millionen Euregio-Bürger auf einer Landkarte auch nur die Umrisse der Euregio Maas-Rhein nachzeichnen kann?
Was die Leute nicht davon abhält, in Aachen einzukaufen, die Lütticher Oper zu besuchen, am Koopzondag durch Maastricht zu bummeln oder - demnächst wieder - den japanischen Garten in Hasselt zu besuchen. Um dieses unbeschwerte Grenzhopping beneiden uns ja gerade Gäste aus anderen eintönigeren Kulturen.
Damit wir uns nicht missverstehen: Dass Politiker, Beamte und sonstige "decision makers", wie es so schön heißt, im Verbund der Euregio Maas-Rhein zusammenarbeiten, gemeinsame Projekte ins Leben rufen und dafür Gelder aus den europäischen Töpfen holen - zum Nutzen der hier lebenden Menschen - dagegen ist nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Aber verschont uns bitte mit einer weiteren Identität. "Der Ostbelgier" weiß davon ein Lied zu singen. Und was kommt als nächstes: das "Bewusstsein" der sogenannten Großregion mit Luxemburg, Rheinland-Pfalz, Lothringen und dem Saarland?
Darum an dieser Stelle: Herzlichen Glückwunsch zum Euregio-Vorsitz, zum schon Geleisteten und zur Zukunftsstrategie 2020, deren Themen den Bürger dies- und jenseits der Grenzen angehen. Aber verwendet nicht zuviel Mühe darauf, ihn partout zum überzeugten "Euregianer" machen zu wollen.