"Meine Mutter und ich standen vor der Synagoge, da war alles zerstört. Da sagte meine Mutter: Sieh dir das gut an, vergiss es nie! Das ist das Testament meiner Mutter gewesen." So schildert Ernst Shimon Weisbecker in seinen Zeitzeugenberichten den Brand der Aachener Synagoge. Damals war er elf Jahre alt.
Seit 1988 erinnert die Stadt Aachen in einer öffentlichen Veranstaltung vor der Neuen Synagoge an die Pogromnacht. Mittlerweile kommen bis zu 400 Menschen zur Mahnwache am 9. November. Organisiert wird sie vom Aachener Bündnis Pogromnachtgedenken mit zahlreichen Partnern. "Wir versuchen immer ganz konkret auf Aachener Ereignisse zu schauen, also wirklich zu sehen, was hier damals geschehen ist. Gleichzeitig wollen wir Schlüsse ziehen und aufzeigen, was heute in Aachen los ist", erklärt Koordinatorin Waltraud Felsch das Konzept.
Dieses Jahr ist die Mahnwache Kindern und Jugendlichen gewidmet, die 1938 in Aachen lebten oder über die Grenze flohen. "Der Grenzraum ist deswegen sehr wichtig, weil tatsächlich ganz viele jüdische Menschen damals über die Grenze geschickt worden sind", wie Felsch betont. "Es war hier ja die Möglichkeit, zum Teil legal, weil die belgischen Behörden gesagt haben: Wir wollen jüdische Menschen retten. Wir wollen vor allen Dingen den Kindern die Möglichkeit geben." Belgien nahm nach der Pogromnacht rund 3.500 jüdische Kinder auf. Viele kamen über den Grenzbahnhof Herbesthal.
Für die Kinder war die Pogromnacht damals ein einschneidendes Erlebnis. Bei der Gedenkveranstaltung wird das greifbar: Zeitzeugnisse werden aus der Kinderperspektive vorgelesen, unter anderem von Schülern des Einhard-Gymnasiums.
Um gezielt Jugendliche zu erreichen, lädt das Theater K diese Woche auch zu szenischen Lesungen ein, die das Geschehen der Pogromnacht in Aachen nachstellen. Im Anschluss bietet ein Gespräch Raum für regen Austausch. "Wir waren sehr verblüfft, wie betroffen die Schüler waren und wie lebhaft sie sich hinterher an der Diskussion beteiligt haben. Wir hatten eine Hauptschule dabei mit besonders hohem Migranten-Anteil. Da waren wir sehr gespannt darauf, wie sie reagieren. Die waren sehr betroffen, haben teilweise geweint, weil sie wirklich auch an ihre eigene Erfahrung erinnert wurden", so Andrea Weyer vom Aachener Bündnis Pogromnachtgedenken.
Über das eigene Erleben öffentlich zu sprechen, falle jüdischen Jugendlichen heute oft schwer. Zu groß sei die Angst. Und doch hat ein Jugendlicher für den Anlass seine Gedanken aufgeschrieben. Sie werden bei der Mahnwache vorgelesen. "Ich erlebe jüdisches Leben als sehr versteckt stattfindend", schildert Elisabeth Paul von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Aachen.
"Jüdische Menschen trauen sich nicht mehr, haben Angst, sind unglaublich traurig, weil man sie nicht mehr wahrnimmt und sie auch Angst haben vor Übergriffen. Die sind desillusioniert und sagen: Wir fühlen uns verlassen. Wir müssen uns auf uns konzentrieren. Wir haben unsere Koffer gepackt, sagen etliche. Es gibt viele, die wirklich Angst vor einem zweiten Holocaust haben.“
Erinnern heiße auch, den Anfeindungen etwas entgegenzusetzen. Begegnung und Austausch stehen im Mittelpunkt des Rahmenprogramms, das von Oktober bis Dezember Vorträge, Lesungen, Konzerte, Theater, Stolperstein-Rundgänge und vieles mehr bietet. Für Waltraud Felsch geht es dabei weit über Erinnerung hinaus: "Eigentlich ist unser Ziel, irgendwann zu einem 'Wir' zu kommen, wo es ganz selbstverständlich ist: Da sind jüdische Menschen, da sind nicht-jüdische Menschen. Wir leben hier zusammen. Wir haben gemeinsame Interessen für die Zukunft und die streben wir gemeinsam an."
Zurückblicken sei wichtig, aber Gedenken bedeute vor allem: Aufmerksam sein und Verantwortung übernehmen. Damit "Nie wieder" nicht zur Floskel wird.
Alice Devroye