90 Jahre ist Henriette Kretz alt. Sie erzählt, wie das damals war. Die zunächst unbeschwerte Kindheit in Polen, der Beginn des Zweiten Weltkrieges, wie sie sich als Jüdin vor den deutschen Besatzern verstecken musste, das Leben im Ghetto von Sambor, Hunger, ständige Angst und der gewaltsame Tod der Eltern - vor ihren Augen.
"Meine Geschichte ist eine Geschichte von ungefähr 1,5 Millionen Kindern - jüdischen Kindern und Sinti- und Roma-Kindern. Sie waren Kinder. Sie wurden zum Tod verurteilt", sagt Henriette Kretz. "Nur weil ein Mensch das gewollt hatte. Und ein Volk hatte das erlaubt. Nicht ein Volk, das ist nicht richtig, viele Völker haben das erlaubt."
Henriette Kretz hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte ihrer Kindheit weiterzugeben. Nicht verklärend und schon gar nicht verbittert. Immer und immer wieder berichtet sie schon seit vielen Jahren für das Maximilian-Kolbe-Werk als Zeitzeugin über das, worüber zunächst oft geschwiegen wurde. "Nach dem Krieg war eine Stille darüber, was geschehen ist. Die Opfer hatten nur eine Idee: Beginnen zu leben. Die Täter sprachen natürlich nicht darüber. Und die Generation von deutschen Kindern und auch in anderen Ländern Europas hatte eine sehr vage Idee, was damals geschah", sagt Henriette Kretz.
Die Schüler im Robert-Schuman-Institut in Eupen bindet Kretz in ihre Ausführungen ein, stellt den Jugendlichen Fragen. Und die sind von der Lebensgeschichte der 90-Jährigen ergriffen. "Ich finde es ziemlich schrecklich, was alles passiert ist, und stelle mir das nicht sehr angenehm vor. Es ist nicht einfach zuzuhören", sagt eine Schülerin.
Einer ihrer Mitschüler meint: "Es ist sehr hart, was sie erlebt hat. Es ist auf jeden Fall nicht zu verstehen, dass so was gemacht wurde. Das sollte auf jeden Fall nie wieder passieren. Die sind die Vergangenheit, das ist schon passiert, und wir sind die Zukunft. Wir können dazu beitragen, dass das nicht mehr passiert."
Auch Henriette Kretz schaut längst nicht nur auf die Vergangenheit und auf ihre leidvolle Kindheit: "Ich sehe die jungen Leute hier und egal in welche Schule und in welches Land ich gehe. Und ich sage ihnen: Sie haben die ganze Zukunft vor sich. Und es gibt so viele Möglichkeiten, einen glücklichen Planeten zu machen. Wie viel kostet ein Krieg? Mit dem Geld könnte man eine ganze Nation glücklich machen."
"Wir planen, den Mars zu kolonisieren, aber wir haben nicht die Mittel gefunden, um auf unserem Planeten zusammenzuleben. Was für Genies sind wir?" Kein gutes Zeugnis der 90-Jährigen für die Menschheit - aber eines mit einem Hoffnungsschimmer.
Am Montagabend hat die Holocaust-Überlebende Henriette Kretz in Eupen vor rund 300 Menschen ihre Lebensgeschichte erzählt. Auf Einladung der Autonomen Hochschule und des Robert-Schuman-Instituts war die 90-Jährige angereist. Dabei gab sie in mehr als 1,5 Stunden bewegende und sehr persönliche Einblicke in die Zeit des Nationalsozialismus.
Ob sie kein Problem damit habe, ihre Lebensgeschichte in der Sprache der damaligen Mörder - auf Deutsch - zu erzählen, war eine der Publikumsfragen an die rüstige Dame. Nein, so die kurze Antwort. Sie führe keinen Krieg gegen Sprachen. Wichtig seien immer der einzelne Mensch und sein Handeln.
Bei dem Erinnerungsabend in Eupen wurde Henriette Kretz von Stephanie Roth vom deutschen Maximilian-Kolbe-Werk begleitet. Das Maximilian-Kolbe-Werk setzt sich für die Überlebenden des Holocaust ein. Anstelle von Eintrittsgeldern wurde in Eupen um eine freiwillige Spende von fünf Euro gebeten. So konnte Stephanie Roth zum Schluss der Veranstaltung ein Scheck von 1.500 Euro Spendengeldern überreicht werden.
Moritz Korff