1975 setzte Belgien die Gemeindefusion durch, denn die Gemeindegrenzen entsprachen zum Teil den Pfarrgrenzen aus der Zeit des 'Ancien Regime'. Doch seitdem hatte es starke demografische Veränderungen gegeben.
Aus manchen Dörfern waren Städte geworden. Und die Aufgaben der Gemeinden wurden immer komplexer. "Zudem waren die Gemeinden völlig unterbesetzt. Ein ganz konkretes Beispiel: Als am 1. Januar 1977 die Gemeinde Büllingen fusioniert hatte, da waren dort fünfeinhalb Verwaltungsbeamte in Vollzeit äquivalent beschäftigt. Heute sind es 18", erklärt Autor Carlo Lejeune.
Alfred Rauw und Carlo Lejeune haben dieser Zeit eine Broschüre gewidmet: "Die Gemeindefusion in Ostbelgien 1977 - Ängste, Widerstand und wenig Alternativen". Sie zeichnen den Widerstand in Ostbelgien nach, setzen ihn in den politischen Kontext der Zeit.
Dazu konnten sie unter anderem zurückgreifen auf Aufzeichnungen und Augenzeugenberichte des ehemaligen Büllinger Bürgermeisters Gerhard Palm. Seine Erinnerungen sind ein Teil Publikation und zeichnen die spannende Aufbruchzeit nach, wie Carlo Lejeune erklärt.
"In der Erinnerung der Ostbelgier, glaube ich, ist die Gemeinde Büllingen schon die Gemeinde, wo der Start am schwierigsten war. Das konnte man daran ablesen, dass die erste Gemeinderatssitzung ganz einfach geplatzt ist, dass Büllingen die Gemeinde war, wo der Bürgermeister als Letzter bestimmt worden ist. Und es war auch die Gemeinde, wo die Schöffen als allerletzte in Ostbelgien gewählt worden sind."
Verwaltung aufbauen
Zunächst galt es, in den neuen Gemeinden ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu etablieren. Das sei bei den ersten Wahlen oft schon auf die Probe gestellt worden ist, sagt Lejeune. Man musste zusammenwachsen, sich kennenlernen. "Das zweite war, dass überhaupt mal eine Verwaltung aufgebaut werden musste. Es gab in ganz Ostbelgien kaum ein Gemeindehaus, das groß genug war, um diese neue Verwaltung aufzunehmen."
"Zudem erhielt diese Verwaltung auch mehr Befugnisse und musste mehr Leute einstellen, so dass da ein ganzer Prozess in Gang gesetzt worden ist, damit diese neuen Großgemeinden verwaltungstechnisch modern und zielgerichtet geführt werden konnten."
Die Broschüre ist aber weit mehr als eine Rückschau. Die Autoren setzen sich auch mit den Herausforderungen auseinander, auf die jede kommunale Ebene heute Antworten finden muss: begrenzte Finanzmittel, Klimawandel und Überalterung. Dazu finden sich auch gute Beispiele in der Publikation.
In der Bürgerbeteiligung sehen sie noch viele Möglichkeiten. Potential dafür gibt es viel in Ostbelgien, findet Lejeune. Dazu müssten aber auch Missverständnisse aus dem Weg geräumt werden. "Viele Bürger sind von der Politik enttäuscht, weil sie glauben, dass ihre Meinung die Meinung der Allgemeinheit sei. Weil wir im Alltag verlernen, Kompromisse zu schließen, Dinge offen anzusprechen, uns mit Argumenten auseinanderzusetzen und dann zu einem gemeinsamen Beschluss zu kommen, der im Interesse möglichst aller ist. Das ist auf der Seite der Bürger."
"Auf der Seite der Politiker ist es so, dass die das Gefühl haben, dass die Bürger immer mehr fordern und dass die Bürger die viele Arbeit, die sie zu leisten haben, zum Teil gar nicht verstehen und auch nicht anerkennen."
Die Broschüre "Die Gemeindefusion in Ostbelgien 1977 - Ängste, Widerstand und wenig Alternativen" ist für zehn Euro erhältlich im Buchhandel, beim ZVS in St. Vith und im Staatsarchiv Eupen.
Gudrun Hunold