Die Warteschlangen vor der Brüsseler Ausländerbehörde werden von Tag zu Tag länger. Es sind Gestrandete, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind. Das Ziel: sich in Sicherheit bringen, ob in Brüssel oder anderswo so wie hier in Aachen am Bahnhof, wo Sascha und Galja angekommen sind. Die letzte Etappe ihrer langen Flucht führt nach Eynatten zu ihrem Neffen Mihael Schneider und seiner Lebensgefährtin.
Sascha und Galja wohnten nicht weit von Europas größtem Atomkraftwerk Saporischschja entfernt. Die Dörfer im Umkreis wurden zerstört. Es blieb keine Zeit, lange zu packen, es ging ums nackte Überleben. Mihael übersetzt, was sein 69-jähriger Onkel und seine 70-jährige Tante erlebt haben. Ob sie mit einem russischen Einmarsch gerechnet hatten? Die Antwort ist ein klares Nein. "Das das war für die beiden ein großer Schock, die begreifen es bis heute nicht, was da jetzt ist, warum das alles passiert, weil die Länder waren früher Freunde, Verwandte, Brüder, Schwestern. Es ist unvorstellbar, sie können es immer noch nicht nachvollziehen, warum."
Sascha ist Russe, seine Frau Polin. Beide leben seit 30 Jahren in der Ukraine. Er war früher Offizier in der russischen Armee und sie arbeitete als Krankenschwester. Beide können nicht verstehen, dass die russischen Soldaten auf ihre Brüder schießen. Und eine Armee, sagt er, soll gegen eine andere Armee kämpfen, nicht gegen Zivilisten.
Seit dem 24. Februar gab es in ihrer Heimat jeden Tag Bombenalarm. Flucht in den Keller, schlaflose Nächte und die ständige Angst - so sahen die letzten Wochen aus. "Also das ist ein Haus mit neun Stockwerken und unten ist natürlich alles unterkellert, eine Tiefgarage und darunter die Kellerräume. Jeden Tag von 0 bis 24 Uhr mussten wir mehrmals runter, um uns im Keller zu verstecken. Irgendwann haben sie gesagt - sie sind ja beide in die 70 - wenn eine Rakete oder Bombe einschlägt, wir bleiben einfach oben. Wenn wir sterben müssen, sollen wir sterben."
Nadine, die Lebensgefährtin von Mihael Schneider ist zutiefst bewegt von dem Schicksal der beiden und reagiert sehr emotional, wenn sie die Bilder im Fernsehen sieht. "Mit Tränen, mit Fassungslosigkeit, man hat Gedanken im Kopf, gerade weil es auch an der Grenze von Polen ist. Wir haben zwei Kinder und wenn's nach hier kommt, was machen wir? Wenn ich sehe, sie sind mit einem Köfferchen nach hier gekommen und ich betrachte das Haus, das sie hatten, es tut mir in der Seele weh, was die zwei verloren haben, das wird einem dann ganz bewusst."
Der Schock sitzt tief, die Nächte sind unruhig. Wenn ein Krankenwagen in Eynatten vorbei rast oder die Motoren eines Flugzeugs hörbar sind, dann kriecht die Angst in ihnen hoch. Und die Sorge um den Sohn, die Schwiegertocher und die Enkelin, die noch in der Ukraine sind. Sascha glaubt, dass der Krieg lange dauern wird.
Und dann die ungewisse Zukunft: "Sie haben natürlich auch Angst, wenn sie zurückgehen, dass Verwandtschaft und Familie alle tot sind und dass alles komplett zerstört ist. Die Tochter von einer Nachbarin wohnt in der Nähe von Kiew, sie sagt, ich wusste nicht, was die Hölle heißt, jetzt habe ich die Hölle gesehen, weil da liegen Körper, abgetrennte Teile, Arme, Köpfe."
Die beiden Geflüchteten haben Verwandtschaft in Moskau. "Und die Verwandtschaft sagt, das was ihr uns erzählt, stimmt nicht, bei uns wird was anderes erzählt, das kann nicht sein, dass es so ist, die sind wie Zombies, sind Putins Zombies, laufen ihm hinterher." Sie fürchten, dass der Konflikt sich ausdehnen könnte. "Putin will all diese Länder wieder haben und deshalb wird ihn nichts aufhalten, sein Vorhaben durchzuführen."
Was beide aber nicht erwartet hatten, ist die Solidarität der Menschen. "Auf dem Fluchtweg dank der EU und Solidarität sind sie nicht verhungert oder erfroren, auf dem ganzen Weg bis hier wurde ihnen geholfen, sie sind sehr dankbar." Jetzt wollen beide versuchen, zur Ruhe zu kommen und sich sicher fühlen.
Chantal Delhez