Quarantäne, Schutzimpfung, Veranstaltungsverbote - Anfang 1962 beherrschten diese Begriffe schon den Alltag im deutsch-belgischen Grenzraum: Ein Monteur des Industrieofen-Unternehmens Otto Junker in Lammersdorf, wo auch mehrere belgische Arbeiter beschäftigt waren, hatte sich beim Auslandseinsatz mit den Pocken in Indien infiziert, was zunächst nicht erkannt wurde. Die Weltgesundheitsorganisation erklärte den Landkreis Monschau zum Internationalen Infektionsgebiet. Das hatte Folgen für den Grenzverkehr, Impfscheine mussten vorgezeigt werden und Zugreisende sich einer Impfung unterziehen, ehe sie weiterdurften.
Veranstaltungen wurden abgesagt - der Karneval "Verboten!", wie das GrenzEcho am Altweiberdonnerstag, dem 1. März 1962, schrieb. "Die seit Tagen befürchtete Entscheidung ist mit brutaler Konsequenz gefallen: Der Leiter der Gesundheitsinspektion für die Provinz Lüttich, Dr. Legros, hat gestern Nachmittag nach stundenlangen Beratungen im Lütticher Provinzialpalais entschieden, dass ab sofort und bis auf weitere Anordnung alle Umzüge, Ballveranstaltungen, Kinovorstellungen und sonstige öffentliche Ansammlungen im ganzen Bezirk Verviers verboten bleiben. Diese Verordnung betrifft natürlich an erster Stelle den gesamten ostbelgischen Karneval…" (Grenz-Echo, 1. März 1962)
Noch am Mittwochabend gingen die ersten Protesttelegramme nach Brüssel und Lüttich, an den belgischen Gesundheitsminister, den Innenminister und an den Lütticher Provinzgouverneur. Nicht weniger empört richtete sich die Karnevalsgesellschaft "Rot-Weiß" Büllingen an den Provinzgouverneur. Zu diesen Protesttelegrammen kamen noch die des Raerener Karnevalskomitees und der Eupener Mittelstandsvereinigung.
Das GrenzEcho schrieb am Freitag vor Karneval (2. März 1962): "Den für das Verbot verantwortlichen Stellen dürften gestern die Ohren geklungen haben. Sie verschanzen sich hinter ihrer Verantwortung für die öffentliche Gesundheit und haben damit eine unangreifbare Stellung. Denn wer möchte schon die Verantwortung übernehmen für eine durch mangelnde Vorsicht durchaus mögliche Verbreitung der furchtbaren Pockenkrankheit?"
Wie die Zeitung am selben Tag titelte, war die "Weiberfastnacht (noch) nicht verboten". Das hatte auch damit zu tun, dass die Verordnung erst mit dem Aushang durch Plakate in den einzelnen Ortschaften in Kraft trat. In Eupen "herrschte auf den verschiedenen Bällen Hochbetrieb", in Malmedy am Fettdonnerstag "bei starkem Besuch die übliche gute Stimmung". "In St. Vith zogen die Möhnen traditionsgemäß durch die Straßen und Lokale und amüsierten sich köstlich auf ihre Weise".
Noch am Freitagabend berief das Eupener Aktionskomitee eine "Aufklärungsversammlung" ein - mit über hundert Teilnehmern. Das GrenzEcho fasste am folgenden Tag zusammen, "dass der Karneval als solcher nicht verboten ist, allerdings sind alle organisierten Züge oder Tanzveranstaltungen verboten. Um es nun noch deutlicher zu sagen, der "volkstümliche" Karneval der einheimischen Bevölkerung wird wie in Großvaters Zeiten stattfinden." (GrenzEcho vom 3. März 1962)
Erinnerungen von Hans Wertz
Hans Wertz, unverwechselbares Eupener Original und hier als Interpret der Eupener Karnevalshymne schlechthin, erinnert sich an das Dilemma. "Was machen wir denn an Karneval … wat wird da gemacht …"
Wie das GrenzEcho dann im Nachhinein berichtete, sollte es für die Karnevalisten aber noch knüppeldick kommen. "Dass die noch einigermaßen elastischen Durchführungsbestimmungen, wie sie Freitagabend bekannt wurden, im Laufe des Samstagabends umgestoßen und so verschärft wurden, dass damit praktisch alles verboten war, sprach sich erst im Laufe des Sonntags herum. Das führte dann zu etwas makabren ‚Trauerkundgebungen‘, in deren Mittelpunkt der Eupener Clown stand. Zu dem Plakat 'Mir kann keiner … etwas verbieten', das ihm in der Samstagnacht Spaßmacher um den Hals gehängt hatten, kamen im Laufe des Sonntags zwei Kränze hinzu. Unter den ungewöhnlichen Umständen dieses verbotenen Karnevals kann man darin nur eine verzeihliche Äußerung des Galgenhumors sehen, mit dem die Karnevalisten die radikale 'Unterdrückung ihrer Freiheit' zur Kenntnis nahmen." (Grenz-Echo vom 6. März 1962)
Auch Hans Wertz ist diese Form des Galgenhumors in Erinnerung geblieben: "Und dann hatten die Eulen doch etwas herausgefunden: Sie marschierten ganz in Schwarz gekleidet, mit Zylinder, und bildeten einen Trauerzug. Der Karneval wurde praktisch zu Grabe getragen. Und dann ging es in die Lokale und da wurde gehopst, gesungen, Witze gemacht … Karneval ist nicht ausgefallen, aber - sagen wir mal: eingeschränkt worden".
"(…) Dass trotz Verbot und Schneegestöber noch immer ungewöhnlich viele Kostümierte durch die Straßen zogen und versuchten, aus dem winzigen Rest des Erlaubten oder vielmehr Geduldeten etwas zu machen, ist der beste Beweis dafür, dass der Karneval einfach nicht "totzukriegen" ist."
Hans Wertz: "Der damalige Polizeikommissar hatte von oben herab Bescheid bekommen und sagte: Es wurde nur Tanzen verboten. Wenn Tanzen verboten ist, dann können die Leute höchstens hopsen. Man durfte die Tanzpartnerin nicht in den Arm nehmen, sondern nur davorstehen und dann wurde gehüpft."
Im GrenzEcho vom 6. März 1962 hieß es dazu: "Polizei und Gendarmeriekontrollen sorgten dafür, dass das Tanzverbot beachtet wurde. Aber das für die Pocken-Ansteckung scheinbar ungefährliche "karnevalistische Herumspringen" wurde mit großer Begeisterung geübt. Bei dem oft lebensgefährlichen Gedränge in den Wirtschaften fragte man sich unwillkürlich, ob denn beim Rosenmontagszug die Gefahr der Ansteckung wirklich größer gewesen wäre…"
"Wir waren im Saal Pauquet - meine Frau war mit dabei - der Saal war rammelvoll und alles war am Hopsen. Es wurde gesungen und alles - es durfte nur nicht getanzt werden", sagt Hans Wertz.
"Die Wirte wachten mit Argusaugen darüber, dass das ‚Hopsen‘ nicht in Tanzen "ausartete". Kostüm-Beschriftungen wie "Wer hopst mit mir?" oder Textabänderungen bekannter Karnevalsschlager wie "Hopseritis", närrisch-spöttische Umwandlung der Ostkantone in "Hopskantone" waren an der Tagesordnung…" "Es waren in jeder Hinsicht "tolle Tage"", schrieb das GrenzEcho.
"Bilanz"
Drei Wochen später wurde im Hotel Bosten Oberstadt "Bilanz" gezogen. Auch das ließ sich der Berichterstatter des GrenzEcho nicht entgehen: "Zahlreiche Delegierte der verschiedenen Eupener Karnevalsgesellschaften und Vereine hatten sich (…) zu einer ersten Versammlung des Aktionskomitees nach diesem "denkwürdigen" Karneval 1962 eingefunden. Der Präsident des AK hob (…) hervor, dass sich an diesen Tagen gezeigt habe, wie tief der Karneval im Volk verwurzelt und dass der Eupener Karneval kein künstliches Gebilde ist. Er dankte dem ungekrönten Prinzen Edgard I., der seine Sache am Karnevalssamstag ausgezeichnet gemacht habe und leider nun für ein Jahr in die Versenkung verschwinden müsse." (GrenzEcho vom 24. März 1962)
"In dem Jahr war Edgard Pauquet Prinz bei den Eulen. Und weil der Karneval ausgefallen war, konnte er nicht regieren und hat im folgenden Jahr weitergemacht", erinnert sich Hans Wertz.
Und was war mit den Pocken? Insgesamt erkrankten rund drei Dutzend Menschen im Landkreis Monschau, eine Person starb. Mehr als 700 Menschen mussten für Wochen in Quarantäne. Erst am 5. April 1962 konnten die letzten fünf Patienten als geheilt entlassen werden. Ende April gaben die Gesundheitsbehörden Entwarnung.
Stephan Pesch