Es müsse mit der Taliban weiterverhandelt und um Menschenrechte, Gewaltvermeidung und zivilgesellschaftliche Freiheit gerungen werden, da nur dies Grundlage für zukünftige Zusammenarbeit sein könne, fordert Misereor. "Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, den Leuten beim Überleben zu helfen", sagt Anna Dirksmeier, die Referentin für Afghanistan beim Bischöflichen Hilfswerk Misereor in Aachen. Sie ist in ständigem Kontakt mit den Partnern in Afghanistan.
Misereor unterstützt dort zwölf Langzeitprojekte mit einem Gesamtvolumen von 7,5 Millionen Euro. Dazu gehören Krankenhäuser, landwirtschaftliche Entwicklungsprogramme, Friedensarbeit und Frauenprojekte, insbesondere in der Ausbildung. "Es geht darum, dass Frauen in der Safran-Verarbeitung Kooperativen aufbauen, Computerkenntnisse für den Beruf erlernen, Nähkurse machen, Englischunterricht erhalten."
Viele der Nichtregierungsorganisationen, die Misereor unterstützt, haben jahrelange Erfahrung in der Projektarbeit. Einige haben schon unter dem früheren Taliban-Regime Ende der 90er Jahre bis 2001 durchgehalten, wie Anna Dirksmeier erklärt. "Sie haben deshalb nicht so viel Angst, weil sie diese Situation schon kennen. Natürlich herrscht große Unsicherheit, weil es nicht dieselben Taliban sind wie vor über 20 Jahren. Man muss immer wieder neu austarieren, welchen Spielraum wir für unsere Zielgruppen erhalten und wie wir ihn erweitern können."
Zurzeit ist keines dieser Projekte von einer Schließung bedroht, und wie andere Hilfswerke hofft auch Misereor, dass die Taliban die Nichtregierungs-Organisationen wohlwollend tolerieren - auch im eigenen Interesse. Verunsichert sind die Partnerorganisationen in Afghanistan, weil sie fürchten, dass neben Staaten auch private Träger wie Misereor ihre Entwicklungshilfe einstellen könnten.
"Am Freitag hatte ich noch eine Videokonferenz mit Partnern, die wirklich Angst hatten, dass wir ihnen verkünden, auch wir machen dicht. Sie sehen ja, dass die Botschaften verwaist sind, dass Personal vom UN-Flüchtlingshilfswerk abgezogen wurde. Das versetzt die Leute in Panik, weil die Unterstützung für das Land dringend notwendig ist."
Die Projektgelder fließen direkt zu den Partnern - ohne Umwege über die Regierung. Dennoch ist Misereor jetzt vorsichtig und hat bereits angewiesene Zahlungen auf Wunsch der Partner zurückgehalten. "Die Gelder fließen ja nicht über die Taliban, sondern über die Banken. Die Frage ist, in wieweit die Taliban die Banken kontrollieren. Das wird gerade geprüft. Die Partner gehen aber davon aus, dass sie wieder direkten Zugriff auf die Mittel haben werden."
"Aber im Moment ist Vorsicht geboten. Sonst müssen wir gucken, ob es andere Wege gibt der Unterstützung. Das kommt erst in Frage, wenn das normale System nicht mehr greift. Aber wir gehen davon aus, da sind unsere Partner zuversichtlich, dass Wege gefunden werden, weil die Taliban interessiert sind an Entwicklungshilfe, weil sie wissen, dass das Land ohne externe Hilfe gar nicht überleben kann und sie sind auch angetreten, die Korruption zu bekämpfen."
Dass sich die Situation für Frauen mit dem Machtwechsel verschlechtert, steht für Anna Dirksmeier außer Frage. Nach der Eroberung durch die Taliban mussten im Norden des Landes vor acht Wochen bereits zwei Frauenzentren aus Sicherheitsgründen geschlossen werden. "Die Partner haben aber nicht aufgegeben und den Kontakt zu den Taliban gesucht."
"Sie haben sie von der Wichtigkeit des Projektes überzeugt, weil Frauen durch ihre Einkünfte auch das Haushaltsbudget entlasten und einen wichtigen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten. Darauf haben die Taliban erlaubt, die Zentren wieder zu öffnen. Der Betrieb geht weiter." Allerdings unter Bedingungen der Taliban. So dürfen Frauen nur noch von Frauen unterrichtet werden. Auch dürfen sie das Haus nicht mehr ohne männliche Begleitung verlassen. Ein Verstoß gegen die Menschenrechte, kritisiert Misereor.
Vor Ort sind aber schnelle und pragmatische Lösungen gefragt. "Es wurden Sammel-Rikschas organisiert, so dass Frauen zu mehreren mit einem männlichen Begleiter abgeholt werden und zum Zentrum kommen können. Im Moment ist es wichtig, Kompromisse einzugehen. Was wäre die Alternative? Dass die Frauen zu Hause sitzen. Es geht darum, diesen Spielraum überall auszuweiten. Das hängt davon ab, wer von den Taliban wo regiert."
Ob sich die Taliban in der Führung durchsetzen, die sich weltoffener und gemäßigter geben, oder aber die lokalen Machthaber mit sehr mittelalterlichen Vorstellungen vom Leben der Frauen, ist noch nicht ausgemacht. Und so ist auch die Bedrohungslage sehr unterschiedlich. Einige Projektmitarbeiter mussten innerhalb des Landes fliehen, andere Afghanistan verlassen. Die meisten aber bleiben vor Ort, um den Menschen weiter beizustehen. Und auch Misereors Haltung steht fest: "Wir bleiben an eurer Seite, auch wenn alle anderen dicht machen", sagt Anna Dirksmeier.
Michaela Brück
Seit Jahrzehnten wird für Afghanistan und andere Länder gespendet und es wird nicht besser. Da ist doch etwas schief gelaufen.
@Scholzen: Es läuft tatsächlich viel schief. Interessante Lektüre:
The White Man's Burden: Why the West's Efforts to Aid the Rest Have Done So Much Ill and So Little Good / William Easterly
und
De crisiskaravaan: achter de schermen van de noodhulpindustrie / Lindo Polman
Seitdem spende ich nicht mehr.
Herr Marcel Scholzen Eimerscheid,
es ist doch schon ein schwerer Vorwurf, zu behaupten, dass die Arbeit von Misereor und anderen Organisationen nichts bringt.
Diese Organisationen können selbstverständlich nicht die Situation strukturell im Land verbessern, dennoch haben durch sie zahlreiche Menschen, insbesondere Frauen, ein besseres Leben.
Mit freundlichen Grüßen
Jean-Pierre Wetzels
Herr Wetzel
Das ist eine Feststellung und kein Vorwurf. Sie wollen eine kritische Diskussion bezüglich Entwicklungshilfe vermeiden.
Ich unterstütze nur ein Projekt,wo ich die Leute persönlich kenne. Da weiß ich, was mit meinem Geld passiert.
Viele Organisationen spielen mit dem schlechten Gewissen von uns so angeblich so Reichen im Westen. Die verkaufen den Leuten ein gutes Gefühl, ein gutes Gewissen. So wird der unangenehmen Frage nach Sinn oder Unsinn eaus dem Weg gegangen.