Mit der Regierungsbildung direkt habe der Protest nichts zu tun, erklärte der FGTB-Sekretär für Ostbelgien, Renaud Rahier. Adressat der Aktionen sind in erster Linie die Arbeitgeber. Zum 15. September hätten die Sozialpartner, also Gewerkschaften und Arbeitgeber ein Gutachten vorlegen sollen, wie sich die einzelnen Sozialleistungen weiterentwickeln sollen, wie und wo die Gelder eingesetzt werden. Da sei von Arbeitgeberseite aber nichts gekommen, beklagen die Gewerkschaften.
Renaud Rahier glaubt, dass die Arbeitgeber auf Zeit spielen: "Die Arbeitgeber wollen gar nicht verhandeln kommen. Sie warten darauf, dass eine neue Regierung kommt, die vielleicht die Versprechen der Vorgänger zurück nimmt, damit die Regierung bloß aus der Tasche bleibt." Die Forderungen, die auf dem Tisch liegen, liegen da tatsächlich schon lange. Mindestlohn von 2.300 Euro brutto und Mindestrente von 1.500 Euro netto – das fordern die Gewerkschaften seit Längerem.
Dass die Regierung in der Corona-Krise viel Geld in die Hand genommen hat, um die Wirtschaft und damit auch die Arbeitnehmer zu stützen, würdigen auch die Gewerkschaften. "Wir sind am Schlimmsten vorbei geschrammt", sagte Renaud Rahier. Aber, man dürfe nicht vergessen, woher das Geld komme: "Die Mittel kommen aus der Wirtschaftskraft der Arbeitnehmer. Es ist unser Geld, das wir in Krisenzeiten zurück bekommen. Nur, die Kassen sind jetzt leer. Wir müssen jetzt überlegen, wie es weitergeht." Und da plädiert die FGTB für Kaufkrafterhöhung – oder anders mehr Geld für die Menschen, sei es Lohn, Rente oder Sozialleistungen.
Das dürfte nicht so einfach sein, wo doch einige Betriebe, um nicht zu sagen ganze Branchen nur sehr schwer durch die Krise kommen. Die FGTB hat aber bereits Geldquellen im Blick: "Man kann die ganzen Milliarden, die jedes Jahr an Steuergeschenken und ONSS-Erleichterungen - auch an Betriebe, die es gar nicht nötig haben - umleiten, in die Bereiche, die krisenbedingt vor dem Abgrund stehen", sagt Renaud Rahier. Also weniger Gießkannenprinzip und mehr Geld dort, wo es nötiger ist.
Demonstrieren in Corona-Zeiten
Die Maßnahmen gegen die Corona-Krise haben auch Auswirkungen auf die Art zu demonstrieren. Die Gruppe der Protestler darf 400 Personen nicht überschreiten. In Ostbelgien war die Gruppe ohnehin kleiner. Eine weitere Auflage war, dass die Zusammenkunft nicht länger als 15 Minuten an einem Ort dauert. Getränke durften nicht ausgeschenkt werden. Die FGTB ist dann an mehrere Standorte in Ostbelgien gezogen: Von Verviers über die Industriezone Les Plénesses nach Herve und nach Eupen an die ehemalige Chocolaterie Jacques. Alle mit Schutzmaske und jede Kontaktblase mit einem eigenen Auto. Protest auf der Straße, das funktioniert anscheinend auch in Corona-Zeiten.
Trotzdem hat die FGTB den Ärger ihrer Gewerkschaftskollegen der Christlichen Gewerkschaft CSC auf sich gezogen. Die schrieb am Montag in einer Pressemitteilung, dass der Kampf gegen Armut nur in gemeinschaftlicher Front zu gewinnen sei. Das sei bei den größeren Kundgebungen im Landesinneren auch im Schulterschluss von FGTB und CSC der Fall. Daher bedauert die CSC Ostbelgien, dass die FGTB hier einen Alleingang gestartet hat, die gemeinsame Front verlassen hat. Die Kritik lässt Renaud Rahier aber kalt: "Wir haben nichts verlassen. Wir haben gewartet. Es hat sich keiner gemeldet. Und wenn sich keiner meldet, lassen wir uns davon nicht abhalten. Wir gehen voran."
Nach langer Corona-Pause war das offenbar noch einmal die Gelegenheit, sich als Gewerkschaft in Erinnerung zu rufen.
Olivier Krickel