Franz Albert Heinen, von allen viel eher mit dem Kürzel F.A. genannt, genießt mittlerweile seinen Ruhestand, in seinem Eigenheim, gleich an der Olef in Schleiden. Der frühere Lokalreporter kann sich gut daran erinnern, wie ihm in den späten 1980er Jahren die Pressemitteilung eines Umweltschützers von der Oberen Kyll zugeschickt wurde.
Darin stand: Zwischen Losheim und Hallschlag gebe es eine große Rüstungsaltlast, auf die er die zuständigen Behörden in Trier und Mainz hingewiesen habe, aber niemand habe reagiert. "Und als Journalist habe ich dann zurückgefragt: 'Gibt’s denn da was zu fotografieren?' Das war ja schon weiter entfernt. Es war also eher eine finanzielle Entscheidung, ob ich hinfahre. Ich kam dann dort an und schaute mich um, bin zum Auto gegangen und habe mir noch ein paar Filme geholt. Denn nun war mir klar: Das wird eine Riesengeschichte."
Erst recht, als er von der besonderen Geschichte dieses Ortes erfuhr. "Da standen Trümmer herum, da waren Flächen, auf denen überhaupt nichts mehr wuchs. Da sprachen Anwohner von Giftgasgranaten und einer Dauerkirmes, die über Jahre vor dem Werkstor gestanden hatte, von Kriegsgefangenen. Das war also erkennbar ein Riesenthema. Und schon alleine diese Trümmergrundstücke hätten ja zumindest ordnungsrechtlich die Verfügung verlangt: Das muss jetzt abgeräumt werden."
Wie es sich für einen Journalisten gehört, hat F.A. Heinen daraufhin selbst bei verschiedenen Behörden in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen nachgefragt: "Habt ihr da eine Altlast? Ist das euch bekannt? Wollt ihr mal mit dem Aufräumen beginnen? Aber dann hörte ich nur Dementis: 'Nö, ne Altlast ham wir nicht'. Daraufhin habe ich mich hingesetzt, habe recherchiert und Zeitzeugen befragt."
Und so setzte sich nach und nach ein Puzzle zusammen, aus dem F.A. Heinen eine ziemlich genaue Vorstellung darüber bekam, was hier bis 1920 los war. Ab Anfang 1915 war hier von Investoren aus Köln eine Sprengstofffabrik gebaut worden, mitsamt Bürogebäuden und Wohnbaracken. Zeitweise kamen mehr als 2.000 Frauen und Männer zum Einsatz, oft Zwangsverpflichtete und Kriegsgefangene, zum Teil waren die Arbeiterinnen in Großstädten wie Hamburg "von der Straße aufgelesen worden", wie es hieß. Sie lebten und arbeiteten unter unhygienischen und auch lebensgefährlichen Bedingungen: Durch die Staubentwicklung in der Pikrinsäureabteilung bekamen die Frauen eine gelbe Hautfarbe.
Produziert wurden hauptsächlich Trinitrotoluol (besser bekannt als T.N.T.) und Sprengstoffe auf Basis von Dinitrobenzol. Vor Ort wurden sie in Granaten abgefüllt, "nämlich 500 Tonnen monatlich T.N.T. - insgesamt waren das über die Jahre verteilt 7.000 Tonnen. Das entsprach etwa 3,5 Prozent der deutschen T.N.T.-Produktion zwischen 1914 und 1918."
Katastrophe am 29. Mai 1920
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden unter Aufsicht der Siegermächte dann zum Teil mit Giftgas gefüllte Granaten der Deutschen und Alliierten zerlegt und ausgeschlachtet. Auch dabei kamen Hunderte Menschen zum Einsatz. "Und die Entsorgung dieser häufig schrottreifen Munition war wirklich lebensgefährlich. Da jagte eine Explosion die andere. Es hat da auch Tote gegeben. Und beim Versuch, eine dieser Granaten zu zerlegen, kam es dann am 29. Mai 1920 zu der Katastrophe."
So schrieb die (Trierer) Landeszeitung am 2. Juni 1920:
"Hallschlag (Eifel) 30. Mai: Gestern entstand auf dem hiesigen der Espagit AG gehörenden Sprengstoffwerk, das zurzeit mit Abrüstungsarbeiten, speziell dem Zerlegen von Artilleriemunition beschäftigt ist Feuer. Anscheinend ist dies beim Ausdämpfen von Granaten entstanden, bei denen sich plötzlich die Füllung entzündete. Mehrere starke Explosionen folgten, von denen namentlich die Dritte von einer derartigen Wucht war, daß in den umliegenden Ortschaften Türen und Fenster aus den Angeln gehoben und Dächer abgedeckt wurden.
Im Werk selbst pflanzte sich das Feuer auf die noch der Zerlegung harrenden Granatenstapel fort. Deren Explosion setzte den größten Teil der Gebäulichkeiten in Brand. Auch die großen, noch aus der Zeit des Krieges stammenden Säure- und chemischen Vorräte, die einen großen finanziellen Wert repräsentierten, fielen dem Element zum Opfer. Auch die mit modernsten Maschinen eingerichtete Schreinerei mit ihrem großen Holzvorräten wurde eine Beute der Flammen, ebenfalls das Millionenwerte darstellende wohlgefüllte Magazin. Menschenleben sind gottlob nicht in dem Umfang zu beklagen, wie bei ähnlichen Vorkommnissen auf anderen Werken. Als tot wird ein Mann gemeldet, der bei Löscharbeiten, die der Betriebsleiter Dr. Albrecht mit einigen Arbeitern versuchte, durch einstürzende Gebäudetrümmer ums Leben kam."
In den folgenden Jahren wurden zwar die meisten Trümmer auf dem Werksgelände abgetragen. Brisante Munition wurde aber gleich verbuddelt oder landete in einem Sprengtrichter. Im Jahr 1928 berichtete das Gewerbeaufsichtsamt, dass "nunmehr alle dort noch gelagerten Sprengkörper und Sprengstoffreste unschädlich gemacht worden sind, und dass das Gelände, soweit dasselbe der Nachprüfung irgend zugänglich war, als gefahrlos angesehen werden kann. Die Entlaborierungsarbeiten auf dem ehemaligen Espagit-Gelände sind nunmehr endgültig durchgeführt".
So die Meldung nach der Schlussabnahme 1928. Somit sei für alle Zeit aufgeräumt und nach menschlichem Ermessen könne keine Gefahr mehr von dem Gelände ausgehen.
Erst der Grünen-Politiker Gunther Heerwagen machte Behörden und Journalisten wie F.A. Heinen auf das Thema aufmerksam. Und das wurde dann auch auf der anderen Seite der Grenze wahrgenommen, wie diese Aufzeichnung aus dem BRF-Archiv vom August 1990 zeigt:
"Hoher Besuch war gestern Abend in der kleinen Gemeinde Hallschlag angesagt. Gleich zwölf Experten aus Mainz und Trier waren angereist, um das Entmunitionierungskonzept vorzustellen. Viel Neues wussten sie allerdings nicht zu berichten. Das meiste war den Einwohnern von Hallschlag bereits bekannt, die jetzt fast 70 Jahre lang auf einem Pulverfass sitzen. Die Munitionsfabrik 'Op Kehr' stammt aus dem Ersten Weltkrieg und bis heute weiß niemand genau zu sagen, welche Altlasten auf dem Produktionsgelände nach Schließung der Fabrik zurückgeblieben sind." (Werner Barth in BRF-Aktuell am 22.8.1990)
Und es sollte noch dauern, bis endlich mit der Räumung der Munition begonnen wurde. Anfangs wurde die Gefahr noch möglichst kleingeredet. Pfingsten 1991 wurden dann aber beim Bau eines Zaunes am Rand des früheren Werks Giftgasgranaten gefunden.
Befürchtungen wegen Giftgas
Die Folge, so F.A. Heinen, war eine Flut von Sicherheitsmaßnahmen, die "wie die Sintflut" über die Anrainer hereingebrochen sei. Großräumig wurden Sperrzonen eingerichtet und Straßen gesperrt. "Da Giftgasgranaten im Spiel waren und potenziell bei der Bergung die Gefahr bestand, dass eine solche Granate ausgasen würde, wurde der maximal mögliche Sicherheitsaufwand betrieben. Das führte zum Beispiel dazu, dass nur bei bestimmten Windrichtungen auf der Räumstelle gearbeitet werden konnte. Wenn der Wind von dem ehemaligen Werksgelände auf die Ortschaft Kehr zu blies, dann durfte nicht gearbeitet werden - dann war Feierabend."
Man verließ sich aber nicht alleine auf die Wetterdaten. "In allen Häusern mussten in den Kellern gasdichte Räume hergestellt werden, die praktisch als Fluchtpunkte dienen sollten, wenn irgendwo Gasalarm war. Dieser Alarm sollte übrigens über eine sprechende Sirene, die man kilometerweit hören konnte, verkündet werden."
Fluchthauben und Exotentrichter
Damit nicht genug: Es wurden auch primitive Gasmasken, sogenannte Fluchthauben an die Menschen in Kehr, Hallschlag und auf den Aussiedlerhöfen verteilt. "Und nur mit dieser Fluchthaube durften die in einer Sicherheitszone, die bis fast nach Hallschlag reichte, ins Freie - zum Beispiel zur Feldarbeit oder, bei den Kindern, um zur Schule zu gehen. Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass die normalen Fluchthauben von kleinen Kindern nicht benutzt werden konnten, weil ihre Lungen zu schwach waren, um den Widerstand der Filter zu brechen - mit der Folge, dass eigens für diese Kinder durch ein Fachunternehmen ein eigenes Schutzsystem entwickelt werden musste."
Zwei Familien auf Aussiedlerhöfen wurden sogar für mehrere Jahre zwangsevakuiert. Für besondere Aufmerksamkeit auch in den Medien sorgte der sogenannte "Exotentrichter". "Da lagen Millionen Zünder drin, die in einem Aufwasch entsorgt worden waren, da lagen Sprenggranaten drin und eben in großem Stil auch diese Giftgasgranaten."
In aufwendiger und gefährlicher Arbeit wurden insgesamt mehr als 6.300 Granaten teils schwersten Kalibers geborgen sowie tonnenweise Sprengstoff, Zündladungen und Munitionsteile.
Ruhen lassen statt alles umpflügen
"Aber die zweite Aufgabe, nämlich die Sanierung der chemischen Altlast im Bereich der Sprengstoffproduktion, die ist nicht gelöst worden. Das ist nur konserviert worden, indem man da zunächst einen Maschendraht und dann eine Erdabdeckung draufgebracht hat, das Ganze eingezäunt hat und dann so liegen gelassen hat. Weil jeder Versuch, da mit dem Bagger abzugraben - und nur so wäre das gegangen, mutmaßlich zu einer riesigen Grundwasserverschmutzung geführt hätte."
So erklärte es im Januar 1999 der damalige Trierer Regierungspräsident Heinrich Studentkowski dem BRF-Kollegen Guido Arimont:
"Wenn wir die Kontaminationen im Boden, die ja mit dem Boden verbunden sind, ruhen lassen, wie sie in den letzten 70 Jahren geruht haben, haben wir die Aussicht, dass diese Immobilität erhalten bleibt. Wenn wir alles jetzt umpflügen würden, erst dann - und das sage ich inbesondere in Richtung Kronenburger See - erst dann würden wir Schadstoffe mobilisieren, die dann sofort über die Gewässer transportiert würden."
Das aus dem Kernbereich kommende Sickerwasser wurde übrigens in eine aufwendige Reinigungsanlage geleitet, die aber anfangs, besonders bei starken Niederschlägen nicht richtig funktionierte. So wurden vereinzelt Bäche mit Sprengstoffrückständen belastet. "Dass das schon geschehen ist, konnte man ja sehen, in den Regenwochen des vergangenen Jahres sind ja zum Teil gefärbte Wasserströme durchs Gelände gelaufen. Das waren solche mobil gewordenen, kontaminierten Gewässer. Ich halte diese Philosophie für überzeugend: Lassen wir im Boden ruhen, was dort ruht, sorgen wir dafür, dass niemand Unbefugtes darin herumwühlt und wir können sicher sein, dass das auch in Ruhe bleibt."
Nicht außer Acht lassen sollte man auch eine weitere Überlegung, die der Trierer Regierungspräsident in dem Interview offen ansprach:
"Meine Leute haben mir gesagt: Wenn wir die Tiefenentmunitionierung komplett durchführen würden, dann kämen wir gut und gerne auf 150 Millionen Mark. Das ist eine geschätzte Größe. Man weiß ja nie, was einem noch begegnet. So will ich auch nicht ausschließen, weil ich es nicht weiß und einschätzen kann, dass in der weiteren Umsetzung des Konzeptes wir nicht plötzlich vor Situationen stehen, wo wir wie beim Exotentrichter zusätzliche Geldmittel aufwenden müssen."
So hat auch F.A. Heinen die politische Entscheidung zur Sanierung des früheren Espagit-Geländes wahrgenommen: "Das war klar, dass das viele Millionen Mark, das war ja noch vor Einführung des Euro, kosten würde. Am Ende ist das eine Kosten-Nutzen-Entscheidung gewesen und sie fiel zugunsten der Kostenreduzierung für diese Abdeckungslösung aus. Als 2012 die Sanierung endgültig beendet war, waren weit mehr als 56 Millionen Euro ausgegeben worden."
Büchse der Pandora
Dennoch hält auch der Lokaljournalist diese Lösung für vertretbar - aus heutiger Sicht. "Das Gift liegt seit Jahrzehnten unangetastet da. Es ist so eingekapselt, dass ohne Einwirkung von außen nach menschlichen Ermessen nichts passieren kann. Allerdings stelle ich mir die Frage: Heute weiß jeder, dass man da nicht baggern darf. Aber was ist in 100 oder 150 oder 500 oder 1000 Jahren. Wenn da versehentlich einer auf die Idee kommt, ahnungslos ein Loch zu graben, wofür auch immer, dann öffnet er die Büchse der Pandora. Diese Gefahr ist nicht gebannt."
Vor 20 Jahren hat F.A. Heinen ein Buch geschrieben über "Die Todesfabrik" Espagit. Es fand damals in ganz Deutschland und darüber hinaus großes Interesse. Ausdrücklich angelegt als Dokumentation.
Die Geschichte der ehemaligen Granatenschmiede und ihre späte Sanierung böten auch Stoff für eine Sozialstudie und sogar einen Agententhriller, wie die Story um den syrischen Spion zeigt. Er war von der Entsorgungsfirma als Fachmann für die medizinische Versorgung im Notfall engagiert worden - aber: "Der kopierte Unterlagen und lieferte die bei nächtlichen Treffen an den syrischen militärischen Geheimdienst. Nach einem Hinweis vom Mossad haben die deutschen Behörden diesen Lagerarzt observiert und nach einiger Zeit festgenommen und beim Oberlandesgericht in Düsseldorf wegen agentendienstlicher Tätigkeit verurteilt."
Was denkt sich da ein Lokalreporter aus Schleiden, wenn plötzlich solche Geschichten auf seinem Schreibtisch liegen? "Die Espagit war für jeden Klopper gut. Da passierten Dinge, die man sich selbst in wildesten Träumen nicht hätte vorstellen können. Aber sie passierten halt."
Auch heute stellen sich Menschen aus dem direkten Umfeld der früheren Munitionsfabrik Fragen: Warum ihr Vieh erkrankt ist oder warum der Mangangehalt des Wassers so hoch ist. Und bekommen keine befriedigenden Antworten. Die Geschichte der Espagit ist wohl doch noch nicht zu Ende erzählt.
Stephan Pesch