Rettungskräfte werden alarmiert, um Verletzten zu helfen. Aber immer häufiger werden sie bei ihren Einsätzen selbst zu Verletzten. Professor Thomas Kron, Lehrstuhlinhaber der Soziologie an der RWTH Aachen, versucht der Ursache dieses Problems auf den Grund zu gehen. Er beschäftigt sich mit körperlichen Übergriffen auf Einsatzkräfte, die für die medizinische Versorgung verantwortlich sind. Also keine Polizeikräfte, sondern Kranken- und Notarztwägen oder die Feuerwehr.
Der Begriff "Gewalt" wird bei bisherigen Studien verschieden definiert. "Aber man kann doch sagen, dass die Gewalt sich seit 2011/2012 fast verdoppelt hat. Das sind die offiziellen Zahlen. Alle Studien vermuten, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist", sagt Professor Thomas Kron. Denn oft werden Vorfälle von den Einsatzkräften nicht direkt gemeldet.
Umfragen zufolge genießen Rettungskräfte mit das höchste Ansehen in der Gesellschaft. "Es gibt sogar eine Umfrage auf Tinder, in der Feuerwehrleute und Rettungskräfte auch gut abschneiden. Also auf der einen Seite eine sehr hohe Wertschätzung und auf der anderen Seite gibt es dann diese Übergriffe. Und dann nehmen die noch zu. Es ist ja auch völlig irrational, dass man Menschen angreift, die einem selbst oder Angehörigen helfen wollen", gibt Kron zu bedenken.
Professor Kron steht vor einem Rätsel. Bisherige Studien vermuten hinter der Gewalt oft, dass Alkohol im Spiel sei. Andere meinen, ein Migrationshintergrund könne eine Rolle spielen, oder das Gebiet, in dem ein Übergriff passiert. "Unser Ansatz wäre ein anderer. Wir wollen uns darauf konzentrieren, was kurz vorher, bevor es zur Gewalt kommt, in der Situation passiert ist. Was sind die Auslöser und die Merkmale in der Situation, die dann letztendlich zu Gewalt führen?"
"Die Frage ist, wann greift jemand, der emotional irgendwie aufgeladen ist, zu Gewalt und wann nicht?", fragt Kron. "Was muss da passieren? Das weiß man eben überhaupt gar nicht. Denn nicht alle Leute, die emotional aufgeladen sind, greifen zu Gewalt. Die meisten tun es Gott sei Dank nicht."
Um dem Rätsel nachzugehen, möchte Professor Kron die Rettungskräfte bei ihren Einsätzen begleiten und filmen. "Um dann ein spezifisches Präventionsprogramm zu entwickeln, was genau darauf reagiert. Damit wollen wir dann die Rettungskräfte trainieren. Und dann, und das ist vielleicht der Clou daran, nochmal mit denen mitfahren und gucken, ob das auch wirklich funktioniert."
In den Präventionsprogrammen sollen den Rettungskräften bestimmte Techniken vermittelt werden. Beispielsweise wie Handlungskontrolle zurückgewonnen werden kann, wenn man wütend oder fassungslos ist. Wie wird in solchen Situationen richtig reagiert? Und wie wird kommuniziert?
In einigen Städten und Kommunen in Deutschland gibt es bereits vergleichbare Programme für Rettungskräfte. Aber bisher liegen kaum Informationen darüber vor, inwieweit diese wirken. "Eher bedenklich ist, dass einige Rettungskräfte sich mit Stichschutzwesten ausgerüstet haben. Das sehen wir insgesamt eher kritisch", so Kron.
"Es ist klar, jeder soll sich schützen dürfen. Aber die Frage ist dann, mit welcher Einstellung gehen eigentlich die Einsatzkräfte dann in solche Konfrontationen rein, wenn sie sich geschützter fühlen. Da gibt es auch die These, dass sie dann nicht mehr so deeskalierend wirken, wie sie es eigentlich könnten, weil sie sich sicher fühlen."
Professor Kron hat sich ursprünglich mit Terrorismusforschung beschäftigt. Von da kam er zur Gewaltforschung. Hinter seiner aktuellen Studie zum Thema "Gewalt gegen Rettungskräfte" steht auch ein eigenes Interesse: "Ganz persönlich finde ich es faszinierend und irrational. Also irgendwas muss da passieren."
"Ich möchte aber nicht so tun, als seien das alles nur Verrückte, die das machen, oder sonst irgendwelche Vorurteile weiter nähren. Sondern das lieber systematisch erforschen. Da könnte die Sozialwissenschaft, oder in dem Fall die Soziologie, mal wirklich was für die Gesellschaft tun. Also nicht nur theoretische Ergebnisse, sondern auch praktische Ergebnisse implementieren. Und das ist auch etwas ganz Schönes."
Olga Duckwitz