Der elfjährige Amos singt a capella und auf jiddisch das Partisanenlied. "Sag nie, du gehst den letzten Weg", heißt es in dem Lied. "Wir wollen und wir werden leben." Viele der Menschen, die dem Elfjährigen zuhören, haben Familien und Freunde während des Holocausts verloren.
Die Nazi-Verbrechen haben auch das Leben der Familie von Charlotte Gutman und ihrer beiden Schwestern schwer gezeichnet. Charlotte sagt, dass die Ängste ihrer Eltern durch ihre Adern fließen, sie nennt es das Syndrom der zweiten Generation.
Auch wenn sie Abstand zu ihrer furchtbaren Vergangenheit gewinnen konnte, hat sie niemals Kinder haben wollen, aus Angst, man könne sie ihr wegnehmen. "In meinem Unterbewusstsein gibt es diese schreckliche Angst, mit der ich geboren bin. Die Angst liegt in meinen Genen. Ich habe die Angst meiner Eltern seit der Geburt mitbekommen. Nach 30 Jahren psychologischer Therapie habe ich bemerkt, dass es etwas in meinem Unterbewusstsein gab, das ich nicht überwinden konnte", erzählt Charlotte.
"Ich hatte immer Angst, schwanger zu werden und habe immer alles unternommen, um nicht schwanger zu werden. Ich bin nicht die einzige meiner Generation, die so reagiert. Ich habe mehrere Freundinnen, die auch so denken, die das gleiche erlebt haben. Zumindest habe ich nicht mit der Angst leben müssen, ein Kind zu haben."
Charlottes Vater Leopold, der vor der Nazizeit in Berlin lebte, war ein Holocaust-Überlebender. Er verlor seine ganze Familie, die in Auschwitz und Buchenwald ermordet wurde. Er überlebte nach jahrelangem Lageraufenthalt. Ein Platz in Berlin wurde nach der Familie benannt. Auch Stolpersteine in Berlin erinnern an die Familiengeschichte.
1945 emigrierte Leopold nach Belgien und baute sich ein neues Leben auf. Die Familie besaß einen mehrere hundert wertvolle Bände umfassenden Bestand zur Geschichte und Gegenwart des Judentums. Die Sammlung enthält Bücher über das Judentum, über Israel, aber auch Autoren wie Thomas Mann, Goethe oder Rilke.
350 Bücher sind es, die der Eupener Pfarrbibliothek als Gutmann-Sammlung geschenkt werden. "Wir haben als Bibliothek nicht nur die Aufgabe, für ein Tagesgeschäft zu sorgen, wir haben auch die Aufgabe, Dinge für spätere Generationen aufzubewahren", sagt Dr. Alfred Minke, der Verwaltungsvorsitzende der Pfarrbibliothek Eupen. "Für die Bibliothek ist das eine Ehre, aber auch eine sehr große Freude. Religionen werden sehr oft - und nicht zu unrecht - als Spaltpilze in der Gesellschaft empfunden. Aber nicht die Religionen spalten, sondern die Leute, die sie falsch verstehen und falsch praktizieren. Dass eine jüdische Familie unserer katholischen Einrichtung diese Schenkung macht, hat uns alle sehr berührt."
Religionen können Menschen zusammenführen, sagt Charlotte Gutman. Das beweise die Schenkung der Sammlung. Sie sei den Eupenern dankbar, dem Bestand ein zweites Leben zu geben.
cd/mg