"In meiner Kindheit müssen es ein Dutzend gewesen sein. Jedes Geschäft hatte seine speziellen Waren. Nägel wurden zum Beispiel bei Kersch geholt, Arbeitskleidung bei Köniks Ann", erinnert sich Michel Bettendorff von der Geschichtsgruppe Rocherath-Krinkelt. "Verschiedene Sachen wurden auch noch lose verkauft: Trockenfrüchte, Erbsen oder Reis wurden einfach in eine ehemalige Zuckertüte eingepackt. Und sonst hatte jeder seine Behältnisse, in die er die Sachen hinein tat. Dahin kommen wir ja heute wieder zurück."
Mit der Geschichtsgruppe Rocherath-Krinkelt hat Michel Bettendorff die Ladengeschichten im Kalender 2019 dokumentiert. Das älteste Geschäft des Dorfes ist um 1820 im Haus Kersch entstanden. Im Laufe der Jahrzehnte kamen viele weitere hinzu. "Das waren alles Nebenverdienstläden. Dass der Mann das Geschäft führte, war eher selten. Meistens war es die Ehefrau, die das als Nebenverdienst machte. Der Vorteil war: Die Geschäfte hatten immer offen, sobald jemand zu Hause war. Wenn samstags Butter fehlte, sprang man schnell ins Geschäft oder Kinder wurden hingeschickt. Es gab einfach keine Öffnungszeiten", erzählt Bettendorff.
Beginn des Geschäftesterbens
Bis in die 60 er Jahre hinein hielt sich der Kleinhandel. Dann kamen die ersten Supermärkte. "In den 70er Jahren kam der Nopri in Büllingen. Um Kundschaft zu gewinnen, wurden dann auch Gratis-Busfahrten unternommen. Der Bus fuhr durch die Dörfer, über Rocherath, Mürringen und Honsfeld. Die Leute wurden dann gratis zum Geschäft gebracht und eine Stunde später machte der Bus die Tour wieder zurück", erklärt Bettendorf. "Das war für die Leute sehr angenehm - auch weil das Warenangebot an einer Stelle konzentriert und es etwas günstiger war. Aber das war eigentlich der Anfang des Geschäftesterbens in unserer Ortschaft und in vielen anderen Dörfern auch."
In Rocherath hat der erste Dorfladen im alten Haus Kersch überlebt: Den hat Valérie Rauw-Fank vor vier Jahren übernommen. Die junge Goldschmiedin wollte sich damit ein zweites Standbein schaffen. Mittlerweile hat sie sich eine feste Kundschaft aufgebaut. "Die Kundschaft ist sehr gemischt: ältere Personen, aber auch viele junge Leute. Es bleibt nach wie vor schwierig, gegen Discounter anzukämpfen, was die Preise betrifft", sagt Valérie Rauw-Fank. "Mein Sortiment ist aber recht groß. Es gibt zwar nicht alles, aber einiges und ich bin noch immer sehr optimistisch, dass es weiter funktionieren wird."
Die Kunden wissen es jedenfalls zu schätzen. Viele kommen regelmäßig. "Das ist sehr praktisch, besonders für uns ältere Leute", sagt Thea Stoffels. "In den Riesengeschäften bin ich irgendwie manchmal verloren und man weiß gar nicht mehr, was man will."
"Wenn eine junge Person noch den Mut hat, sich selbständig zu machen mit einem Tante-Emma-Laden, soll man die auch unterstützen. Wir wissen das wirklich zu schätzen, dass wir in Rocherath noch einen Laden haben, wogegen die meisten Dörfer das nicht mehr sagen können", sagt Irene Stoffels.
Das Sortiment ist im Laufe der Jahre immer größer geworden: von Obst und Gemüse über Trockenwaren bis hin zu Geschenk- und Dekoartikeln. "Und was Valérie nicht hat, bestellt sie und binnen zwei Tagen ist es da", sagt Irene Stoffels.
Und auch auf den Wunsch nach regionalen Produkten hat sich das "Kaufhaus V.", wie es sich nennt, eingestellt. "Man merkt schon, dass die Kundschaft ihre Denkweise geändert hat und wieder auf das Regionale zurückkommt. Die Nachfrage wächst stetig", stellt Valérie Rauw-Fank fest.
Emma 2.0
Valérie Rauw-Fank steht mit ihrem kleinen Geschäft nicht alleine da. 14 Dorfläden aus Ostbelgien haben sich zusammengetan und die Initiative "Emma 2.0" gegründet. "Wir haben mindestens einmal im Jahr ein Treffen, bei dem wir uns austauschen und zum Beispiel Kontakte von Lieferanten weitergeben. Wir versuchen, auch so zusammenzuarbeiten, dass wir die bestmöglichen Preise für die Kunden rausholen können", erklärt Valérie Rauw-Fank.
Schon Valéries Vorfahren hatten ein Geschäft in Rocherath: Im Haus Voße war 1935 der Laden von Friedrich Rauw untergebracht. Nach dem Umbau will Valérie in das Haus ihrer Großeltern ziehen. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Dorfbäcker und -metzger soll das "Kaufhaus V." wieder zu einem zentralen Treffpunkt werden - mit Kaffee-Ecke und ohne Einkaufsstress.
Der Kalender 2019 mit den Ladengeschichten ist übrigens zum Preis von 8,50 Euro bei Michel Bettendorff in Rocherath erhältlich.
mb/mg