BRF: Wie steht es um die Sicherheit von Brücken in Europa?
Prof. Hegger: Grundsätzlich sind Brücken sicher. Hier in Mitteleuropa werden die Brücken regelmäßig kontrolliert. Natürlich ist die Kontrolle länderabhängig unterschiedlich. In Deutschland werden die Brücken alle sechs Jahre sehr gründlich gewartet. Und wenn dort erste Anzeichen von Schäden sind, wird man weitere Maßnahmen treffen, die Brücke weiter untersuchen und nachrechnen. Es wird alles Mögliche getan, um die Brücken sicher zu machen.
BRF: Muss man nach 50 Jahren mit einer Materialermüdung rechnen bei solchen Brücken?
Prof. Hegger: Grundsätzlich verschleißt alles. Jeder ist es gewohnt, dass sein Auto nach zehn Jahren teilweise ersetzt werden muss. Das Gleiche passiert natürlich mit Brücken. Man muss bei einer Brücke, die Mitte der 60er Jahre gebaut worden ist, bedenken, dass der Verkehr damals anders war als heute. Heute fahren viel mehr LKW. In Deutschland fahren vier bis fünf mal mehr LKW über die Brücken, und jeder LKW ist heute auch doppelt so schwer wie damals in den 60er Jahren. Wenn man das berücksichtigt, verläuft der Verschleiß, die Ermüdung viel schneller.
Heute haben wir grundsätzlich viel mehr Verkehr auf unseren Straßen. In Deutschland läuft rund drei Viertel des Güterverkehrs über die Straße. Man würde ja vermuten, dass viel mehr über die Schienen und Wasserwege führt, aber nach wie vor ist die Straße das Haupttransportmittel. Das gilt für alle Länder in Mitteleuropa. Während früher in den 70er Jahren ein 28-Tonner Lkw ein schweres Fahrzeug war, ist heute die Standardgröße 44 Tonnen. Diese Fahrzeuge sind dann meistens auch noch zwischen zehn und 20 Prozent überladen. Wir haben also doppelte Gewichte auf der Straße.
BRF: Muss man nicht den Verkehr der Belastbarkeit der Brücken anpassen oder umgekehrt?
Prof. Hegger: Das ist natürlich ein Kernthema. Wir haben Brücken, die 50 Jahre alt sind. Etwa die Hälfte der Brücken in Deutschland sind 40 Jahre und älter. Damals hat man für andere Verkehrslasten bemessen, gerechnet und konstruiert. Mittlerweile werden die alten Brücken nachgerechnet für die Verkehrslastmodelle. Es gibt ja Möglichkeiten: Wenn eine Brücke vorher zwei Spuren hat und man stellt fest, sie hat nicht ausreichende Tragfähigkeit, dann reduziert man die Anzahl der Spuren, so dass in jede Richtung nur noch eine Spur fährt - oder man begrenzt die Geschwindigkeit. Es gibt eine Reihe von Brücken, da darf man nur mit 60 Kilometer drüber fahren. Und so passt man den Verkehr der Tragfähigkeit der Brücke an.
BRF: Den Verkehr auf Schiene und Wasser zu verlagern: Wäre das nicht die Lösung?
Prof. Hegger: Grundsätzlich wäre das natürlich die beste Lösung. Aber man muss auch sagen: Das ist die teuerste Lösung. Neue Wasserstraßen und Schienenkilometer sind viel viel teurer, als Straßen zu bauen. Und deswegen ist klar, dass in Europa vorwiegend auf der Straße gefahren und transportiert wird.
BRF: Dem privaten Betreiber in Genua hat man mangelnde Wartung vorgeworfen. Wäre ein europäisches Kontrollsystem denkbar?
Prof. Hegger: Grundsätzlich ja. Wir haben ja mittlerweile seit 20 Jahren europäische Normen, die die Berechnung von Häusern, Brücken und andern Tragwerken regeln, aber ich glaube schon, die einzelnen Länder wollen da die Autonomie wahren. Es gibt in der Normungskommission in Brüssel ganz klar die Aussage: Die Frage der Sicherheitsstandards darf jedes Land alleine festlegen, weil der Sicherheitsstandard direkt verbunden ist mit Wirtschaftlichkeit. Und da es in Europa eben reiche Länder und weniger reiche Länder gibt, muss man das offen halten. Eine weitere europäische Organisation, die das zentral kontrolliert, macht das auch nicht besser. Entscheidend ist, dass vor Ort wirklich kontrolliert wird, und das kann jedes Land auch alleine gut machen.
BRF: Und das wäre auch der Weg, um so ein Unglück zu vermeiden: möglichst viele Kontrollen? Oder wie kann man so etwas verhindern?
Prof. Hegger: Sie müssen ein System haben, in dem regelmäßig überprüft wird, ob das Material, die Brücke noch funktionsfähig ist, und das muss man konsequent machen. Und wenn man Schäden feststellt, muss man auch konsequent Maßnahmen ergreifen: die Brücke entweder sperren, den Verkehr reduzieren oder mit einer Sanierung beginnen. Das war ja in Italien der Fall. Dort war man gerade dabei zu sanieren. Natürlich ist da immer ein Ermessensspielraum. Wie weit bin ich jetzt in der Beschädigung und dem Verschleiß der Brücke? Ob man nicht schon früher Maßnahmen hätte ergreifen müssen, muss jetzt vor Ort geklärt werden.
BRF: Der Brückenbetreiber hat schon angekündigt, eine neue Brücke bauen zu wollen. Gibt es denn Alternativen zu diesen Brücken, zum Beispiel unter Verwendung von Carbon?
Prof. Hegger: Die Brücken, die wir bauen, sind entweder Stahlbetonkonstruktionen - eher bei kleinen Brücken - oder Spannbetonkonstruktionen bei den richtig großen Brücken. Das war ja auch in Genua. Zwei Drittel bis 70 Prozent der Brücken in Deutschland sind Spannbetonbrücken. Die haben sich in den letzten Jahrzehnten bewährt. Man muss eben bedenken, wenn ich ein Bauwerk habe, muss ich es pflegen und warten. Die Spannbeton-Weise ist nach wie vor eine der besten, wirtschaftlichsten Bauweisen. Stahlbrücken sind eine Alternative, aber eine Stahlbrücke muss in einem Zyklus von zehn bis 20 Jahren einen komplett neuen Korrosionsschutz bekommen. Das ist viel Aufwand. Man kann nicht sagen, dass ein System optimal ist, man kann nur feststellen: 70 Prozent unserer Brücken sind Spannbetonbrücken, und ich gehe davon aus, dass das demnächst auch so sein wird. Das Einzige, was man vielleicht neu machen wird, ist, dass man anstelle von Stahl nichtmetallische Bewehrung wählt, das wären zum Beispiel Carbon-Bewehrungen. Die haben kein Problem mit der Korrosion.
BRF: An diesem Freitag erfolgt der Brückenschlag der Hochmoselbrücke. Kann man davon ausgehen, dass sie den modernsten Technologien entspricht?
Prof. Hegger: Die Hochmoselbrücke war ein lange diskutiertes Projekt, das jetzt endlich realisiert ist. Ich denke, für die Verkehrsanbindung ist es ein notwendiges Projekt. Diese Brücke ist komplett in Stahlbauweise erstellt worden. Wenn man jetzt Bilder und Berichte darüber sieht, ist man erstaunt, wie wenig Leute überhaupt vor Ort daran arbeiten. Und trotzdem wird die Brücke jetzt fertig sein. Ich bin selbst keine Stahlbauer, aber ich denke, dass die Brücke nach den neuesten Methoden gebaut wurde. Und wenn man dann vergleicht: Diese Brücke ist 1,7 Kilometer lang und die Kosten liegen bei 450 Millionen Euro - das ist ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis.
BRF: Und wenn die Brücke dann mal fertig ist: Werden Sie mit einem guten Gefühl über diese Hochmoselbrücke fahren?
Prof. Hegger: Auf jeden Fall. Da habe ich keine Bedenken. Man muss nur schwindelfrei sein in der Höhe.
Michaela Brück