In den 1980er Jahren war das Sozialrecht in Belgien in Bewegung. In diesem Rahmen gelang es 1994 den Befürwortern sozialer Absicherung, die Verfassung um einen Artikel zu erweitern, der jedem Belgier das Recht zuspricht, in Würde zu leben. Der Verfassungsgeber listete auch eine Reihe von Beispielen auf, wohlwissend, dass es sich mehr um Zielvorgaben handelte als um eins- zu-eins einklagbare staatliche Auflagen.
Rechtslehre und Rechtsprechung, unter anderem des Verfassungsgerichts, erarbeiteten daraufhin eine Doktrin, derzufolge der Gesetzgeber soziale Standards nicht substantiell herunterfahren dürfe, es sei denn, er ersetze sie durch zielführende und dem Gemeinwohl dienende neue Gesetze.
Vor diesem Hintergrund fielen jetzt zwei Urteile von Arbeitsgerichten im Raum Lüttich. 2012 hatte die föderale Vorgängerregierung verfügt, das Eingliederungsgeld auf drei Jahre zu beschränken. Es betrifft angehende Berufsanfänger, kann aber auch ältere Arbeitnehmer betreffen, die unregelmäßig einer Arbeit nachgehen oder eine Arbeit finden. 2015, drei Jahre später, schloss das Landesamt für Beschäftigung (ONEM) 30.000 Personen aus.
Für die jüngeren heißt dies etwa: zurück ins Hotel Mama, für andere bedeutet es den Weg zum ÖSHZ. Denn die Sozialgesetzgebung ist inzwischen ungeheuer komplex geworden. Sie bilde ein Kaskadensystem und führe zu Fallstricken, wenn der Gesetzgeber an kleinen Rädchen drehe, im immer größer werdenden Räderwerk, bei gleichbleibendem Anteil des BNP's für die Sozialsysteme, wie Renaud Rahier es ausdrückt.
So versteht man, dass solche Urteile wie die, die jetzt an Lütticher Arbeitsgerichten gefällt wurden, von Politik, Justiz und Gesellschaft mit Aufmerksamkeit verfolgt werden. Eines der Urteile habe die FGTB-Verviers-DG erreicht, sagte der Gewerkschafter Rahier am Montag dem BRF auf Anfrage.
Auffallend, auch der Auditor, also der Vertreter des Staates, hatte im Sinne der Kläger plädiert. Einer davon hatte, nach dem Ausschluss, seine Wohnung verloren und wurde obdachlos, das Gericht urteilte in dem Sinne, das verringere den Sozialstandard des Betroffenen, ohne seine Integrationschancen zu fördern, der Ausschluss verstoße somit gegen besagten Verfassungsartikel.
Mehrere hundert solcher Verfahren sind anhängig, manche bereits in zweiter Instanz entschieden, mal so, mal so, mal im Sinne des ONEM, mal im Sinne der Kläger. Beide Seiten, Arbeitsamt und Betroffene bzw. ihre Anwälte und unterstützenden Gewerkschafter erwarten weitere Aufschlüsse vom Kassationshof. Affaire à suivre, wie es in der Zunft heißt.
Frederik Schunck - Illustrationsbild: Kurt Desplenter (belga)