"Radikalisierung" wurde in letzter Zeit zwar häufiger im Zusammenhang mit Terrorakten verwendet, doch auch im derzeitigen Sozialkonflikt ist es durchaus angebracht. Insbesondere bei der sozialistischen Gewerkschaft CGSP werden Ton und Methoden schärfer. In Mons inszenierten CGSP-Leute am Dienstag eine Hinrichtung: An einem eigens dafür konstruierten Galgen wurde eine Puppe gehängt. Die Puppe sollte Premierminister Charles Michel darstellen. "Schuldig", brüllte die Rote Menge. Die geschmacklose Vorstellung sorgte für allgemeine Empörung.
Doch auch in den bestreikten Betrieben liegen die Nerven blank. Immer häufiger berichten Medien über das vergiftete Klima, etwa in den Haftanstalten. Stellenweise waren und sind Einschüchterungsversuche und Drangsalierungen an der Tagesordnung. In Saint-Gilles musste sich ein flämischer Gewerkschaftsdelegierter schlagen und bespucken lassen, weil er die Mitarbeiter davon überzeugen wollte, den Streik zu beenden. Als dann nicht per Handzeichen, sondern geheim abgestimmt werden sollte, wurde die Urne kurzerhand verbrannt.
Sabotage-Akte
Bei der SNCB kam es noch dicker. Dort gab es regelrechte Sabotage-Akte. Vergleichsweise harmlos waren da noch die Feuerwerkskörper und Fahnen, mit denen die Streikenden die Gleise blockierten. "An zwei Stellen haben wir aber auch festgestellt, dass Notsignale überbrückt worden waren", sagt Frédéric Petit vom Infrastrukturbetreiber Infrabel. Besagte Installationen hätten damit also falsche Informationen an die Leitstellen gesendet - ein klares Sicherheitsproblem.
Deswegen habe Infrabel auch Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Im Moment ist von mindestens sechs Sabotageakten die Rede. Bei Infrabel hieß es aber, dass man es sich "nicht vorstellen könne, dass es sich bei den Tätern um Bahnbedienstete handele".
TEC-Busfahrer gespalten
Seit Dienstag wird auch die wallonische TEC bestreikt. Der Protest geht auch hier vor allem von der sozialistischen CGSP aus. Und auch hier gilt offensichtlich das Gesetz der Brechstange: Einige Depots wurden abgeriegelt, arbeitswillige Kollegen mehr oder weniger entschlossen davon abgehalten, ihren Dienst aufzunehmen. So etwas habe er in 25 Jahren noch nie erlebt, sagte ein CSC-Busfahrer in der RTBF. Die Mehrheit der Leute wolle arbeiten, und die würden von einer kleinen Minderheit von CGSP-Leuten daran gehindert.
Längst besteht kein Zweifel mehr, dass die sozialistische Gewerkschaft es ernst meinte, als man die Order ausgab, solange zu protestieren, bis die Föderalregierung gestürzt ist.
Auf der anderen Seite: Provokation
Nun muss man sagen: Einige scheinen das Spiel inzwischen gerne mitzuspielen. Was des einen Exzess, das ist des anderen Provokation.
Zunächst sei die Frage erlaubt, ob die Direktion den richtigen Zeitpunkt ausgewählt hat, um die Streichung der Ausgleichstage anzukündigen.
Der OpenVLD-Vizepremier Alexander De Croo fand es zudem angebracht, ausgerechnet mitten im Bahnstreik laut über eine Privatisierung der SNCB nachzudenken. Darauf angesprochen, erklärte Bahnchef Jo Cornu, dass eine Privatisierung eigentlich den Vorteil hätte, dass die Geschäftsleitung mehr Handlungsspielraum bekommen würde.
Ebenfalls kam plötzlich das Thema Minimaldienst wieder auf den Tisch, also: eine gesetzliche Pflicht, selbst im Streikfall eine Grundversorgung aufrechtzuerhalten. Das hat die Regierung zwar schon in ihr Koalitionsabkommen reingeschrieben, neu ist das nicht. Dennoch steht der Eindruck im Raum, dass auch hier bewusst Öl ins Feuer gegossen wird.
Lutgen will einen "Waffenstillstand"
"Das muss aufhören", appellierte jetzt unter anderem CDH-Chef Benoit Lutgen. Beide Seiten dürften sich nicht weiter hochschaukeln. Man müsse dem Land und seiner Wirtschaft auch mal die Möglichkeit geben, durchzuatmen. Waffenstillstand - und danach müsse der Dialog im Vordergrund stehen: Die CDH ist zwar auf der föderalen Ebene in der Opposition, und doch legt Lutgen hier demonstrativ Besonnenheit an den Tag, appelliert an die Vernunft.
Bei den Gefängniswärtern und auch bei der Bahn sind seit dem Nachmittag neue Schlichtungsgespräche im Gange. Ob die Zeichen weiter auf Konfrontation stehen, ist noch unklar.
rop/km - Bild: Alexis Taminiaux/Belga