Das "Soziale Europa" - für viele ist das nicht mehr als eine Worthülse. "Das Soziale Europa gibts nicht", hört man quasi auf jeder Demo in Brüssel. Und tatsächlich kann so mancher Arbeitnehmer den Eindruck haben, dass er im vielbeschworenen "Europäischen Binnenmarkt" eher auf der Seite der Verlierer steht.
Häufig fällt in diesem Zusammenhang das Wort "Lohndumping" - wenn in einem Land ausländische Arbeitskräfte am Markt sind, die dieselbe Arbeit deutlich günstiger verrichten als einheimische Arbeiter. "Schuld" ist hier die so genannte "Entsende-Richtlinie": Ein Unternehmen kann Arbeitskräfte in ein anderes EU-Land schicken, um dort einen Auftrag auszuführen. Diese Leute bekommen dann aber immer noch denselben Lohn wie in der Heimat.
"Und das führt zu enormen Wettbewerbsverzerrungen", sagte die belgische EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen in der VRT. "Was sehen wir auf dem Terrain? Da sind Leute beschäftigt, die gerade mal die Hälfte der Bezüge bekommen, die ein heimischer Arbeiter bezieht. Damit wird es für heimische Betriebe unmöglich, mit den ausländischen Unternehmen zu konkurrieren. Und da sind wir eben bei dem, was man gemeinhin unter Sozialdumping versteht."
160.000 Fälle in Belgien
Das Phänomen ist in Belgien ziemlich weit verbreitet. 2014 waren hierzulande 160.000 "entsandte Arbeitskräfte" registriert, die also von Unternehmen aus dem EU-Ausland nach Belgien geschickt wurden. Mehr als die Hälfte davon war im Baufach beschäftigt. Weil die für zum Teil deutlich weniger Geld dieselbe Arbeit machen, ist das für so manchen Bauherren natürlich verlockend - zum Leidwesen der heimischen Arbeiter.
Gerade noch wies die ostbelgische Kammerabgeordnete Kattrin Jadin noch auf eine weitere Folge hin: Vier von zehn öffentlichen Ausschreibungen in Belgien werden am Ende slowakischen, rumänischen oder estnischen Unternehmen zugeschlagen. Auch das ist ein Indiz dafür, dass da irgendetwas nicht stimmt.
Zwei-Jahres-Grenze
"Wir wollen mehr Gerechtigkeit, mehr Gleichheit", sagt Marianne Thyssen. Konkret: "Wir wollen, dass entsandte Arbeitskräfte dasselbe verdienen wie die heimischen Kollegen. Und das bezieht sich nicht nur auf den Stundenlohn", betont Thyssen. "Ein eventuelles 13. Monatsgehalt, mögliche Prämien, Bonuszahlungen oder auch Ausgleiche bei wetterbedingtem Verdienstausfall, all das muss künftig berücksichtigt werden."
In der Praxis soll das also so aussehen: "Arbeiter, die für mehr als zwei Jahre entsandt werden, sollen den lokalen Arbeitskräften in allen Belangen gleichgestellt werden", sagte die EU-Sozialkommissarin auch im Parlament. Genau hier zeigen sich aber schon die Grenzen des Thyssen-Vorschlags. Zwei Jahre, das sei doch eine viel zu lange Zeit, kritisieren Gewerkschaften. "Solche Fälle sind eher die Ausnahme als die Regel", sagte auch Veronique Verbruggen vom Verband der Bauwirtschaft. "Eine solche Gleichstellung muss schon nach sechs Monaten erfolgen."
Problem Soziale Lasten
Ganz zu schweigen davon, dass die Kontrollen das eigentliche Problem sind, sagen die Kritiker. Außerdem bleibe da immer noch das Problem, dass die Lohnnebenkosten im Thyssen-Vorschlag nicht berücksichtigt werden. Auch bei angeblich "gleichem" Lohn ist ein osteuropäischer Arbeiter also immer noch günstiger. "Wir können aber nicht die Sozialen Lasten mit berücksichtigen", sagt Marianne Thyssen. "Wenn wir Leute für eine begrenzte Zeit der Sozialgesetzgebung anderer Länder unterwerfen, dann produzieren wir europaweit ein bürokratisches Chaos."
Thyssens Vorschlag ist schon ein Kompromiss. Insbesondere in Osteuropa gab es und gibt es noch enorme Widerstände. Deswegen lancierte die belgische Kommissarin denn auch einen flammenden Appell im Parlament: "Lasst uns gemeinsam an einem sozialeren Europa arbeiten. Und lasst uns dabei offen an die Sache herangehen. Mein Vorschlag ist mehr als heiße Luft. Ich meine das ernst."
Roger Pint - Bild: EU-Parlament