Brüssel gegen Brüssel: So lässt sich der Konflikt zusammenfassen. Brüssel, das ist im ersten Fall die EU-Kommission und im zweiten das Mitgliedsland Belgien. Die Kommission kämpft für fairen Wettbewerb. Belgien für Arbeitsplätze. Deswegen hatte die Verhofstadt-Regierung bereits 2005 die komplizierten Steuerdeals mit dem schönen Namen "Only in Belgium" ins Leben gerufen. Nur in Belgien wurden den internationalen Konzernen denn auch Steuervergünstigungen von bis zu 90 Prozent angeboten. Mindestens 35 Unternehmen, darunter Brauriese AB Inbev, sollen darauf eingegangen sein.
Mindestens 35 Unternehmen betroffen
EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Verstager hält die Steuerdeals nicht nur für unfair, sondern vor allem für unzulässig. Die selektiven Steuervergünstigungen seien illegale Staatsbeihilfen. 700 Millionen Euro an Steuern hätten die 35 betroffenen Unternehmen dank des Systems eingespart. Belgien müsse das Geld nun von ihnen zurückfordern, verlangt Verstager.
In den Genuss des Systems der Vergünstigungen durch Gewinnüberschüsse konnten nur internationale Großkonzerne kommen. Und genau da liegt das Problem. Natürlich dürfe die Regierung Investoren anlocken, um Arbeitsplätze und Wachstum zu schaffen. Dazu gebe es auch Möglichkeiten im Rahmen der EU-Gesetzgebung. Allerdings dürfe man nicht nur einigen Unternehmen Vorteile gewähren – wie groß und mächtig sie auch immer sein mögen.
Konzerne konnten zwischen 50 und 90 Prozent der steuerlichen Abgaben sparen
Und so funktionierten die umstrittene Steuerregelung: Bestimmte multinationale Konzerne brauchten auf ihren sogenannten "Gewinnüberschuss" in Belgien keine Steuern zu zahlen. Der Überschuss entsteht, weil die Filialen in Belgien Teil einer internationalen Gruppe sind und dadurch weniger Kosten haben als gewöhnliche Betriebe. Dieser zu hohe Gewinn war dank eines Deals mit dem Finanzministerium so gut wie steuerfrei. Gemessen an der gebräuchlichen Grundlage für die Körperschaftssteuer konnten die betroffenen Multinationals zwischen 50 und 90 Prozent bei ihren Abgaben an den Staat einsparen. Diese Sonderbehandlung gewisser Großkonzerne sei kleinen Konkurrenten gegenüber unfair.
Finanzminister Johan Van Overtveldt hatte den Rüffel der EU-Kommission schon ankommen sehen. Bereits vor einem Jahr waren erste kritische Stimmen laut geworden. Deswegen hat die Föderalregierung das System der Bevorteilung durch Gewinnüberschüsse ausgesetzt: Seit Februar 2015 seien keine neuen Deals mit internationalen Konzernen mehr geschlossen worden. Außerdem sei man transparent gewesen und habe der EU alle verfügbaren Daten über die Deals bereitgestellt.
Was die Nachzahlung der Unternehmen an den belgischen Staat in Höhe von 700 Millionen Euro angeht, da äußert Van Overtveldt schwere Bedenken. 700 Millionen zurückfordern, das werde keine einfache Sache. Außerdem würde Belgien dann Vertragsbruch begehen. Frühere Regierungen hätten den Unternehmen die Deals ja fest zugesagt. Das Investitionsklima in Belgien würde darunter ebenfalls leiden, warnt Van Overtveldt.
Finanzminister Van Overtveldt will in Verhandlungen mit EU treten
Der Finanzminister spielt auf Zeit. Er will nun in Verhandlungen mit der Europäischen Union treten und hält sich alle Optionen offen – auch einen Widerspruch gegen die Entscheidung der Kommission. Unter anderem die Niederlande fechten ihr EU-Verfahren wegen Steuervorteile für Starbucks ja an.
Die Grünen und die linke PTB haben die Zurechtweisung durch die EU begrüßt. Das System sei intransparent und ungerecht: Während der kleine Mann zur Kasse gebeten werde, würde man den Großkonzernen Geschenke bereiten. Die Sozialisten halten sich mit ihrer Kritik bislang zurück. Kein Wunder, saßen sie doch 2005 mit in der Regierung als die Steuervorteile beschlossen worden waren.
Nicht nur Belgien, auch andere Staaten in der EU versuchen mit Tricks und Steuervorteilen Großkonzerne und damit Arbeitsplätze anzulocken. Ob es in Europa noch Steuerparadiese gebe, wollte ein Journalist von Kommissarin Verstager wissen. Sie antwortete mit Humor. "Für mich ist ein Steuerparadies ein Ort, an dem jeder seine Steuern zahlt", sagt Kommissarin Verstager. Wir seien also noch weit von diesem Paradies entfernt, aber die EU-Kommission versuche, diesem Ort näher zu kommen.
Was für Belgien erstmal bleibt ist ein weiterer Imageschaden: nach der Terrorgefahr und den umstrittenen Atomkraftwerken jetzt also noch die unzulässigen Steuerregelungen.
Alain Kniebs - Illustrationsbild: epa