21. November: Mit fast finsterer Miene verkündet Premierminister Charles Michel, dass der Anti-Terrorstab Ocam für Brüssel Warnstufe 4 ausgerufen hat. Die Gefahr einer Terrorattacke ist "ernst und unmittelbar". Spätestens da war wohl die terroristische Bedrohung definitiv auch in Belgien angekommen.
Den furchtbaren Auftakt gab es gleich schon am Anfang des Jahres. Am 7. Januar geschieht in Paris das Unfassbare. An jenem Mittwochmorgen stürmen zwei schwerbewaffnete Männer in die Redaktionsräume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und richten ein Blutbad an. Redakteure und Zeichner werden kaltblütig exekutiert, offenbar wollen die islamistischen Terroristen Rache üben für die Mohammed-Karikaturen, die Charlie Hebdo immer wieder abgedruckt hat. Insgesamt zwölf Menschen verlieren ihr Leben. Und das nur, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung kompromisslos wahrgenommen haben.
Schockstarre. Schweigeminute bei den Journalistenverbänden, Schweigeminute im EU-Parlament, Schweigeminute in der Kammer. Politiker, Journalisten, engagierte Bürger, sie alle brechen eine Lanze für die Meinungsfreiheit, für die Pressefreiheit, für die Freiheit schlechthin. Denn dagegen habe sich der Anschlag von Paris gerichtet, sagt Premierminister Charles Michel in der Kammer: "Die Angreifer haben über die Redaktion von Charlie Hebdo die Grundwerte unserer demokratischen Gesellschaften attackiert."
Der Albtraum ist aber noch nicht zu Ende. Zwei Tage später sind die beiden Täter immer noch auf der Flucht. Genau in dem Moment, wo man glaubt, dass sie der Polizei nicht mehr entkommen können, gibt es Meldungen von einer Schießerei in Paris. Ein Mann hat in einem jüdischen Supermarkt Geiseln genommen. Auch hier verlieren insgesamt fünf Unschuldige ihr Leben.
Schon hier weisen einige Spuren nach Belgien, so sollen die Attentäter Teile ihres beeindruckenden Waffenarsenals in Brüssel gekauft haben. Wie soll man auf die schrecklichen Attentate reagieren? Diese Frage treibt auch die Politik in Belgien um.
Bis man von der Realität rechts überholt wird.
Anti-Terror-Einsatz in Verviers
15. Januar: Schüsse in Verviers. Die Szene wird von einem Nachbarn gefilmt. Die Polizei hat ein Haus umstellt, in dem islamistische Terroristen vermutet werden. Die Männer eröffnen sofort das Feuer. Zwei von ihnen sterben bei dem Schusswechsel.
Die mutmaßlichen Terroristen hätten kurz davor gestanden, loszuschlagen, sagte Thierry Werts, Sprecher der Föderalen Staatsanwaltschaft. Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand wollten die Verdächtigen gezielt Polizisten töten. Psychose. Terrorwarnstufe 3 wird ausgerufen, Kommissariate werden für den Publikumsverkehr geschlossen.
Gleich am Tag nach dem Polizeizugriff stellt die Regierung einen Zwölf-Punkte-Plan vor: zwölf Maßnahmen im Kampf gegen die terroristische Bedrohung. Sichtbarster Beschluss: Ab Terrorwarnstufe drei können Soldaten auf dem belgischen Boden zur Unterstützung der Polizei eingesetzt werden. Ab sofort steht ein Bataillon von 150 Mann bereit, sagt Innenminister Jan Jambon. Ein Bild, an das man sich gewöhnen muss - und wird: Soldaten vor "sensiblen" Gebäuden, Parlamenten, EU-Institutionen, jüdischen Einrichtungen.
In der Zwischenzeit stellt sich heraus, dass die beiden mutmaßlich Dschihadisten, die bei dem Anti-Terror-Einsatz in Verviers getötet wurden, aus Molenbeek stammten. Sie kamen aus dem Dunstkreis von Abdelhamid Abaaoud, einem einschlägig bekannten Islamisten, der nach Syrien in den Krieg gezogen ist. Molenbeek und Abaaoud: Namen, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Jahr ziehen sollten.
König Philippe: Unsere Werte leben
Die terroristische Bedrohung steht auch im Mittelpunkt der Ansprache von König Philippe zum Neujahrsempfang im Palast. "Die Attentäter haben versucht, uns zu spalten", sagte König Philippe. "In diese Falle sind wir aber nicht getappt. Die beste Art auf den Terror zu reagieren ist es, unsere Werte überzeugt zu leben."
Einige Tage nach den Ereignissen in Verviers wird übrigens im Prozess gegen die Islamistenorganisation Sharia4Belgium das Urteil gesprochen. Sharia4Belgium soll eine zentrale Rolle bei der Rekrutierung von Kämpfern gespielt haben, die sich dann in Syrien meist der Terrororganisation IS angeschlossen haben. Das Antwerpener Strafgericht stuft die Gruppe als "terroristische Vereinigung" ein. Fouad Belkacem, Gründer und Chefideologe von Sharia4Belgium, muss für zwölf Jahre ins Gefängnis. Die meisten der 44 Verurteilten sind aber in Syrien bzw. dort im Kampf gefallen.
Indexsprung, Pensionsreform und Tax-Shift
Kampfansage von FGTB-Chef Rudi De Leeuw: "Wenn die Regierung am Indexsprung festhält, dann gehen wir zu neuen Protestaktionen über". Das Jahr 2015 war auch geprägt von quasi permanenten sozialen Spannungen. Die Reformagenda der Regierung wird konkret, eine Reihe von Projekten ist auf der parlamentarischen Zielgeraden. Und die Equipe Michel will sich offenbar nicht mehr von ihrem Weg abbringen lassen. Im Februar wird der Indexsprung endgültig besiegelt, im Frühjahr wird auch die Pensionsreform auf die Schienen gesetzt.
Die Regierung will aber doch auf die Gewerkschaften zugehen. Auf Druck der CD&V wird im schon Januar ein Tax-Shift versprochen, eine Verschiebung der Steuerlast, weg von der Arbeit hin zu anderen Einnahmequellen. "Das können Abgaben auf Kapitalerträge sein, aber auch Ökosteuern oder eine Erhöhung der Mehrwertsteuer", sagt der CD&V-Vizepremier Kris Peeters.
Griechische Tragödie
In gewisser Weise ist der Jahresbeginn quasi schon ein "Teaser" für 2015. Ebenfalls im Januar wird die Grundlage gelegt für die griechische Tragödie, die das erste Halbjahr maßgeblich prägen sollte. Die linksradikale Syriza-Partei gewinnt die Parlamentswahl in Griechenland. Spitzenkandidat Alexis Tsipras hat seinen Wählern ein "Ende des Spardiktats" versprochen.
Ende Februar läuft das bisherige Hilfsprogramm aus; das wäre also aus Sicht der Wahlsieger in Athen die Gelegenheit. Aus Brüssel gibt es da aber gleich einen Dämpfer. Finanzminister Johan Van Overtveldt erinnert an die bestehenden Absprachen. Aber vor allem gibt es Gegenwind vom deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble.
Schnell macht das Wort "Grexit" die Runde - man will nicht mehr ausschließen, dass es Athen auf eine Konfrontation anlegt und am Ende möglicherweise sogar aus der Eurozone ausscheidet. Zumal sich allen voran der schillernde griechische Finanzminister Gianis Varoufakis offensichtlich für eine Katz und Maus-Strategie entschieden hat: Man spielt auf Zeit. Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem platzt irgendwann der Kragen: "Wir können diese Woche noch nutzen, aber das wars dann wohl".
Am 20. Februar kommt es zum Showdown. Dabei gibt es zwar eine Einigung, das Problem wird aber eigentlich nur vertagt. Das Hilfsprogramm wird quasi provisorisch erstmal um vier Monate verlängert. Man will sich Zeit geben ...
Regierung vs. Gewerkschaften
In Belgien rumort es derweil nach wie vor an der Sozialfront. Die Gewerkschaften sind hin- und hergerissen; das gilt vor allem für die christliche CSC: Dialog oder Konfrontation?, so lautet die Frage. Auf der einen Seite einigten sich die Sozialpartner schon im Januar auf ein Rahmentarifabkommen. Alle unterzeichnen, bis auf die sozialistische FGTB. Die CSC will das aber nicht so verstanden wissen, dass man damit den Indexsprung oder die Rentenreform akzeptiert. "Wir nehmen uns die Freiheit, immer noch gegen all die Dinge zu protestieren, mit denen wir nicht einverstanden sind", sagte CSC-Chef Marc Leemans:
Im Frühjahr gibt es dann wieder einen Clash zwischen der Regierung und den Gewerkschaften. Diesmal geht es um die Frühpensionsregelung, auf die sich die Sozialpartner in seltener Einvernehmlichkeit verständigt haben. Die Regierung nimmt - trotz entsprechender Warnungen der Gewerkschaften - doch Korrekturen an dem Text vor. Wütende Reaktionen. "Warum bittet man uns denn noch um unsere Meinung, was ist eigentlich vom belgischen Dialogmodel noch übrig, wenn die Regierung ohnehin am Ende macht, was sie will?", fragt Marc Goblet von der FGTB. Die Regierung und der Soziale Dialog, auch so ein Dauerbrennerthema des Jahres 2015.
Germanwings-Katastrophe
24. März: Wieder eine erschütternde Mitteilung aus dem Munde des französischen Präsidenten François Hollande. In den Alpen ist ein Flugzeug abgestürzt, Flug 4U9525 der Germanwings, von Barcelona unterwegs nach Düsseldorf. Alle 150 Insassen kommen ums Leben, darunter auch ein Belgier.
Je mehr Details über den Verlauf der Katastrophe bekannt werden, desto mehr keimt aber ein unheimlicher Verdacht auf. Zwei Tage später bestätigt Lufthansa-Chef Carsten Spohr das Unfassbare. Nach den bisherigen Ermittlungen soll der 27-jährige Copilot Andreas Lubitz das Flugzeug kontrolliert und bewusst gegen einen Berg geflogen haben. Ein Selbstmord, bei dem der depressive junge Mann 149 Menschen mit in den Tod riss.
Ein anderer ging alleine - still und heimlich. Steve Stevaert, einstige Lichtgestalt der flämischen Sozialisten, nahm sich Anfang April das Leben. Seine Leiche wurde im Albertkanal. Hintergrund war offenbar ein drohendes Strafverfahren wegen Vergewaltigungsvorwürfen.
Es gibt auch erfreuliche Nachrichten im Frühjahr. Die belgische Wirtschaft wächst wieder. Auch vom Arbeitsmarkt gibt es positive Signale. Die EU-Kommisssion bestätigt wenig später einen allgemeinen Aufwärtstrend: "Der Lenz ist da", sagt EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Pierre Moscovici. Der Lenz ist da - auch im wörtlichen Sinne. Strahlend blauer Himmel, kaum eine Wolke zu sehen und Sonne pur. Dazu Temperaturen wie im Hochsommer.
Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa
Das allerdings ist nicht nur das Signal für die Kneipen und Restaurants, die Terrassenstühle rauszustellen. Immer mehr Flüchtlinge wagen die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer, um in die EU zu gelangen. Das meist auf - im wahrsten Sinne des Wortes - Seelenverkäufern, Äppelkähnen, Nussschalen. Ein ums andere Mal kommt es zur Tragödie, immer wieder kommen gleich hunderte Menschen ums Leben.
Die EU ist alarmiert und ruft im April einen Sondergipfel zusammen. "Wir können nicht nach jeder Tragödie erklären 'nie wieder', aber anschließend nicht handeln", sagt die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Die "Todesfahrten" auf dem Mittelmeer müssten verhindert werden, sagt auch Außenminister Didier Reynders. Außerdem müsse man den Schleppern das Handwerk legen und die EU-Grenzschutzbehörde Frontex mit mehr Mittel zur Seenotrettung ausstatten.
Genau das wird am Ende auch vereinbart. Auf dem Terrain ändert sich aber nicht sehr viel. Mit jedem Tag werden die Flüchtlingsströme größer, begleitet von immer neuen Tragödien. Im September geht das Foto des kleinen Aynan um die Welt. Der Dreijährige lag ertrunken an einem türkischen Strand.
Strompanne bei Belgocontrol
Ende Mai: Riesenchaos am Brüsseler Flughafen, aber auch den anderen Airports des Landes. Der Grund: Bei der Flugaufsicht Belgocontrol sind buchstäblich die Lichter ausgegangen. Strompanne, aufgrund einer Überspannung. Die Folgen sind spektakulär. Der komplette Luftraum muss gesperrt werden und es dauert Tage, bis der Flugverkehr sich wieder normalisiert.
Die einen Computer sind aus, andere wurden angezapft. Mitte des Jahres verdichten sich die Hinweise darauf, dass der deutsche Geheimdienst BND jahrelang Kommunikationsnetze angezapft hat, die auch von belgischen Unternehmen genutzt wurden. Projekt Eikonal. "Wenn das stimmt, dann wird das nicht ohne Folgen bleiben", erklärte Premierminister Charles Michel. Hier gehe es schließlich um befreundete Länder und das störe doch ernsthaft das Vertrauensverhältnis.
Ein paar Tage später war dann aber doch erstmal wieder alles vergessen. Bei der Gedenkfeier zum 200. Jahrestag der Schlacht von Waterloo beschwören König Philippe und Premier Michel den europäischen Integrationsprozess. Europa und Waterloo: Zwei Stichworte, die nicht besser zum Sommer 2015 passen könnten.
Griechisches Chicken-Game
Inzwischen steht Griechenland kurz seinem Waterloo, genauer gesagt vor der Pleite. Da geben die übrigen Partner diesmal eine ganz klare Parole aus: "Geld nur gegen Reformen". Doch Athen pokert immer noch. Das Kalkül ist offensichtlich: Ministerpräsident Tsipras und vor allem sein Finanzminister Varoufakis wollen die Situation solange verrotten lassen, bis die übrigen Partner Panik schieben und am Ende doch auf die Forderungen aus Athen eingehen.
Der Amerikaner nennt das "Chicken-Game": Zwei Autos fahren auf einen Abgrund zu. Wer zuerst auf die Bremse tritt, der hat verloren. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bemüht keine Hühner, dafür Kühe: "Die Kuh muss vom Eis, aber sie rutscht dauernd aus."
Die Uhr tickt weiter. Ein Krisengipfel jagt den nächsten, der Einsatz bei dem Pokerspiel wird immer höher. Samstag, 27. Juni: Fünf vor zwölf. Im Grunde schon fünf nach, denn Ende des Monats läuft das Hilfsprogramm aus. Ein Satz könnte das Schicksal Griechenlands besiegeln: "Die griechische Regierung hat den Verhandlungstisch verlassen", sagt Dijsselbloem.
Dann der Paukenschlag: Athen beraumt kurzfristig ein Referendum an. Die Griechen hatten die Partner ja schon an Einiges gewöhnt, aber das ... "Wir haben kein Mandat, um ein neues Sparprogramm im Alleingang zu verwerfen", begründete der griechische Finanzminister Gianis Varoufakis die Entscheidung. "Wir müssen die Bevölkerung vorher um ihre Meinung bitten."
Varoufakis gibt also klipp und klar zu: Die Regierung in Athen will sich eigentlich nur vom Volk das Grüne Licht holen, um das neue Hilfspaket abzulehnen. Viele Kollegen sind auf 180. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble bläst hörbar in die Backen. Tango-Tanzen, das mache man zu zweit, sagt auch der föderale Finanzminister Johan Van Overtveldt. Die griechische Regierung habe aber nie den Eindruck vermittelt, sich wirklich konstruktiv auf Kompromisse einlassen zu wollen.
Wie nicht anders zu erwarten lehnen die Griechen am darauffolgenden Wochenende die Auflagen für das Hilfspaket ab. Überraschender ist da der Rücktritt von Finanzminister Varoufakis, der sich längst zum Roten Tuch entwickelt hatte. Der Uniprof und Experte für Spieltheorie, er hat sich verzockt.
In Griechenland droht die Lage vollends außer Kontrolle zu geraten. Die Banken überleben nur noch dank der Notkredite der EZB. Um zu verhindern, dass sie ausbluten, bleiben die Banken geschlossen. Außerdem dürfen die Bürger pro Tag nur noch 60 Euro abheben. Noch einmal zwei Wochen und einen Marathon-Gipfels braucht man, um die Junckersche Kuh vom Eis zu bekommen. 13. Juli: "Es wird keinen Grexit geben. Wir sind zufrieden mit dem Resultat der Verhandlungen", meldet Juncker. Das Ganze hat den Griechen wenig genützt. Die Spar- und Reformauflagen bleiben im Wesentlichen unverändert.
Jobs, Jobs, Jobs
Was des einen Grexit, ist des anderen Tax-Shift, innenpolitisch wohl das Wort des ersten Halbjahres 2015. "Diese Regierung hat drei Prioritäten: Jobs, Jobs und Jobs" - das Credo der Regierung, wie Charles Michel betont. Auch, um die Gewerkschaften zu besänftigen, hatte die Regierung im Januar eben diesen "Tax-Shift" versprochen. Heißt also: Arbeit soll billiger werden.
Die Einkommensverluste, die durch die Senkung der Lohnnebenkosten entstehen, sollen ausgeglichen werden, z.B. durch eine Besteuerung von Kapitaleinkünften. Die Gewerkschaften verbinden damit die Hoffnung, dass die Sanierungsanstrengungen gerechter verteilt werden. Ein geschlagenes halbes Jahr hat mal palavert, verhandelt, gefeilscht. Kurz nach dem Nationalfeiertag, am 23. Juli, gibt es weißen Rauch: Die Lasten auf Arbeit werden nach und nach um sieben Milliarden Euro gesenkt, sagt Premierminister Charles Michel, der das Wort "historisch" in den Mund nimmt.
Aber nicht nur die Unternehmen sollen entlastet werden, sondern auch die Bürger: Klein- und Mittelverdiener sollen ab dem kommenden Jahr 100 Euro mehr in der Tasche haben, verspricht Finanzminister Johan Van Overtveldt. Was die Gegenfinanzierung betrifft, so bleibt die Regierung aber vage. Eine wirkliche "Reichensteuer" wird es nicht geben, stattdessen wird die Mehrwertsteuer auf Strom wieder angehoben: von sechs auf 21 Prozent.
"Die Regierung gibt mit der linken Hand und nimmt es sich wieder mit der Rechten", so denn auch der allgemeine Tenor bei der Opposition. Und auch die Gewerkschaften sind enttäuscht. "Der Tax-Shift geht in die komplett falsche Richtung. Hier wird doch wieder einmal nur der 'Kleine Mann' geschröpft", beklagen FGTB-Generalsekretär Marc Goblet und CSC-Chef Marc Leemans.
Proteste der Milch- und Schweinebauern
Riecht nach einem "heißen Herbst". Heiß ist der Sommer allerdings auch schon. Die Landwirte gehen auf die Barrikaden. Erst sind es nur die unabhängigen Verbände, allen voran das EMB von Erwin Schöpges, dann protestieren auch die großen Bauernvereinigungen gegen die niedrigen Erzeugerpreise.
Milchbauern und auch Schweinezüchter bekommen nicht mehr genug für ihre Erzeugnisse und fordern Mechanismen zur Marktregulierung. Im Sommer blockieren wütende Bauern mehrmals Unternehmen und Verkehrsachsen. Sie konnten sich zweifellos Gehör verschaffen, ihre Probleme sind aber nicht gelöst.
Noch im Sommer erschüttern zwei weitere Terroranschläge die Welt: Im tunesischen Badeort Sousse kommen im Juni mindestens 27 Menschen ums Leben, als ein Attentäter am Strand um sich schießt. Im August kann im Thalys-Hochgeschwindigkeitszug Schlimmeres verhindert werden. Auch hier wollte ein Attentäter um sich schießen. Der Mann konnte nur wenige Augenblicke vor der Tat von zwei amerikanischen Soldaten überwältigt werden, die zufällig in dem Zug saßen. Der französische Innenminister Bernard Cazeneuve dankte den beiden für ihren "heldenhaften Einsatz".
Beide Vorfälle bestärken die Regierung in ihrer Absicht, die Anti-Terrorgesetze zu verschärfen. Premierminister Charles Michel stellt sogar das Schengenabkommen, das das "Europa ohne Grenzen" begründete, infrage. "Es gibt Regeln, daran müssen sich alle halten. Und es muss auch möglich sein, diese Regeln zu verändern." Michel ist nicht der erste, und sollte auch bestimmt nicht der letzte sein, der das Schengenabkommen zur Diskussion stellt.
Exodus
Das ist kein Flüchtlingsstrom mehr, das ist ein Exodus, sagt Asylstaatssekretär Theo Francken. Und in der Tat: Was sich mit den Tragödien im Mittelmeer schon andeutete, das wächst Mitte des Jahres zu einer Krise aus. Immer mehr Flüchtlinge strömen nach Westeuropa, vor allem nach Deutschland, aber auch nach Belgien. Im August setzt Deutschland die Dublin-III-Verordnung faktisch aus. Die Flüchtlinge werden nicht mehr in das Land zurückgeschickt, über das sie in die EU eingereist sind.
Belgien wird gegen Ende des Jahres rund 35.000 Asylanträge registriert haben - mal eben doppelt so viel wie im Jahr 2014. Zeitweise ist das Ausländeramt in Brüssel gnadenlos überfordert, die Menschen müssen auf der Straße übernachten.
Asylstaatssekretär Theo Francken nimmt die zuständigen Behörden aber in Schutz. 250 Asylanträge pro Tag, mehr sei einfach nicht drin, sagte Francken in der VRT. Dafür gebe es sowohl personelle, als auch materielle Gründe. In den Wochen darauf wird Fedasil die Zahl der verfügbaren Plätze von 16.000 auf rund 33.000 mehr als verdoppeln.
Andere europäische Länder hingegen tun nichts, zumindest nicht viel. Das gilt insbesondere für die östlichen EU-Staaten. Wie viele andere kritisiert auch Premier Michel die Verweigerungshaltung. Länder wie Polen und Ungarn könnten nicht die Hände aufhalten, wenn es darum geht, europäische Fördergelder zu erhalten - in Krisenzeiten aber nichts tun.
Hier zeigt sich aber das, was man auch schon im ersten Halbjahr feststellen musste. Damals verweigerten die reichen Staaten Griechenland die Solidarität. Jetzt lassen die östlichen Staaten die im Westen in der Flüchtlingskrise im Stich. Das Fazit von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist zugleich eine Warnung: "Unsere Europäische Union befindet sich in keinem guten Zustand."
Wieder jagt ein Krisengipfel den nächsten. Es geht um die innereuropäische Verteilung der Flüchtlinge und um den Schutz der Außengrenzen. Doch die Fronten bleiben verhärtet. Zwar scheinen die östlichen Länder immer mal wieder Zugeständnisse zu machen, bei der praktischen Umsetzung hapert es dann aber gleich wieder.
Gewerkschaftsproteste
Der Herbst beginnt so heiß, wie von den Gewerkschaften angekündigt. 7. Oktober: Eine neue Großkundgebung, pünktlich zum ersten Geburtstag der Regierung. Der Erfolg ist ähnlich beeindruckend wie vor genau einem Jahr: 80.000 Teilnehmer. Der Ärger lasse nicht nach, sagt Marc Leemans von der christlichen Gewerkschaft. Die Menschen im Land seien sauer, weil sie von der Regierung zur Kasse gebeten würden, während Reiche und Unternehmen völlig verschont blieben.
Die Demo sollte nur der Auftakt sein. In den darauffolgenden Wochen organisiert vor allem die FGTB reihum Streiks in den Provinzen. In Lüttich kommt es dabei Mitte Oktober zu einer folgenschweren Entgleisung. "Unerhört", sagt ein Autofahrer. "Man kann ja egal was blockieren, aber doch nicht die Autobahn!!!". Genau gesagt ist es die E40-Autobahn in Lüttich.
Zu allem Überfluss haben die Streikenden ein Feuer entzündet, und zwar auf der Brücke von Cheratte, die gerade instandgesetzt wird. Wegen des Staus schafft es ein Arzt nicht zeitig in die Klinik, die Patientin stirbt. Premierminister Charles Michel verurteilt später die Aktion mit scharfen Worten. Streikrecht erlaube eben nicht alles.
Auch bei der SNCB geht es im Wesentlichen um die Grenzen des Streikrechts. Immer wieder kommt es zu Protestaktionen. Mehr und mehr fühlt sich die Regierung in ihrer Absicht bestätigt, einen Minimaldienst im Streikfall einzuführen. Mobilitätsministerin Jacqueline Galant hat ohnehin ehrgeizige Pläne für die Bahn, sichtbar ist hier aber vor allem das drastische Sparprogramm. Mittelfristig sollen bis zu 7.000 Stellen bei der Bahn abgebaut werden.
Doch hat Jacqueline Galant erstmal ganz andere Probleme. Die MR-Politikerin gerät wegen der Vergabe eines Beraterauftrags an ein Anwaltsbüro unter Druck. Der sei nicht ordnungsgemäß ausgeschrieben worden, so der Vorwurf der Opposition. Und man glaubt, Jacqueline Galant beim Lügen erwischt zu haben. Sie weist den Vorwurf zurück. Sogar Premier Michel muss in die Bresche springen, um seine Ministerin zu verteidigen. Der Druck wird größer und größer, bis plötzlich die ganze Welt wieder mit Bestürzung nach Paris schaut.
Erneut Anschläge in Paris
13. November: Wieder schlagen islamistische Attentäter in Paris zu. Es ist eine beispiellose Attacke. In einem Konzertsaal werden Dutzende Menschen buchstäblich exekutiert, zeitgleich schießen Terroristen auf belebten Terrassen wild um sich, am Stade de France sprengen sich Attentäter während eines Freundschaftsspiels in die Luft. Die grausige Bilanz: mindestens 130 Tote, über 350 Verletzte. Zu der Attacke bekennt sich die Terrororganisation IS.
Frankreich steht unter Schock. Der Ausnahmezustand wird verhängt. Präsident Hollande will den Krieg gegen IS verschärfen. Frankreich ruft dabei die EU-Partner um Hilfe an, der Beistandsartikel der EU-Verträge wird aktiviert. "Alle EU-Staaten stehen den Franzosen bei", sagt die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Die Ermittlungen laufen derweil auf Hochtouren. Schnell führt die Spur nach Belgien, genau gesagt nach Molenbeek.
Molenbeek
Die internationale Presse geißelt die Gemeinde als "Brutstätte des islamistischen Terrors". Nicht völlig unbegründet. Dort hat auch einer der mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge gewohnt: Salah Abdeslam. Abdeslam war am Abend des 13. November in Paris. Die Behörden müssen davon ausgehen, dass er noch im Besitz seiner Sprengstoffweste ist. Außerdem gibt es wohl weitere Hintermänner in Belgien, die vielleicht eine vergleichbare Angriffswelle in Brüssel planen. Wohl aus all diesen Gründen ruft der Anti-Terrorstab OCAM am 21. November Terrorwarnstufe vier aus.
Das öffentliche Leben in Brüssel kommt zum Erliegen. Die Metros und unterirdisch verlaufenden Tram-Linien sind außer Betrieb, die Schulen geschlossen. Das gilt auch noch für die nächsten Tage. Das Wort "Lockdown" macht die Runde. Insbesondere die Folgen für die Geschäftswelt sind verheerend. Man sei sich durchaus darüber im Klaren, was man da gerade mache, sagt aber Innenminister Jan Jambon. Man mache das nicht zum Spaß, die Lage sei entsprechend ernst. Und die Maßnahmen würden aufrechterhalten - "solange wie nötig". Erst knapp eine Woche später, am 26. November, kehrt man zur Warnstufe drei zurück.
Griechenland, Flüchtlingskrise, Terrorismus: 2015 war auch das Jahr, in denen Grundwerte und -prinzipien infrage gestellt oder relativiert wurden. Von Politikern, wie dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban oder zuletzt auch von der neuen polnischen Regierung. Aber auch in den Bevölkerungen wird Stimmung gemacht: gegen Europa, gegen Flüchtlinge.
König Philippe greift diese Tendenzen in seiner Weihnachtsrede auf.
Weltklimakonferenz
Der Dezember stand auch ganz im Zeichen der Weltklimakonferenz, der COP21. Doch bevor in Paris die heiße Phase der Verhandlungen begann, gab es schon handfesten Streit, allerdings in Belgien. Der Föderalstaat und die Regionen konnten sich partout nicht auf ein Abkommen verständigen, das die innerbelgische Lastenverteilung regeln sollte. Bei der Eröffnung der Konferenz steht Premier Michel also mit leeren Händen da.
Alle zeigen auf Flandern, genauer gesagt die N-VA, die Angst hat, dass der nördliche Landesteil benachteiligt wird. Premier Michel überrascht dann aber mit einer eigenwilligen Erklärung: Schuld sei die Wallonische Region. In Namur weist man die Vorwürfe zurück. Aber immerhin: Am Ende einigen sich die Belgier, und auch bei der Klimakonferenz in Paris gibt es weißen Rauch.
Gegen Ende des Jahres machen auch die belgischen Atomkraftwerke wieder von sich reden. Gerade in den letzten Dezembertagen gab es gleich eine Reihe von Störfällen in den Reaktoren Doel 3 und Tihange 1. Dabei könnte es für Betreiber Electrabel doch eigentlich nicht besser laufen. Im Sommer wurden schon die Laufzeiten der alten Reaktoren Doel 1 und 2 verlängert, im Herbst gibt die Atomaufsichtsbehörde (Fank) grünes Licht für die Wiederinbetriebnahme der Sorgenkinder Doel 3 und Tihange 2. Die waren ja wegen der ominösen Materialschwächen anderthalb Jahre zuvor stillgelegt worden.
In der Zwischenzeit wurde der Stahl überprüft. Experten von der Fank, aber internationale Fachleute unter anderem in den USA hätten sich umfassend mit der Materie beschäftigt. Befund: Die Materialfehler stellten die Reaktorsicherheit nicht in inakzeptabler Weise in Frage.
Waar is dat feestje?
2015, ein Jahr der Krisen, der Anschläge, der Angst ... aber es gab auch gute Neuigkeiten. Die Roten Teufel haben 2015 die Stimmung aufgeheitert. Die Fußballnationalmannschaft qualifizierte sich für die Europameisterschaft und eroberte ganz nebenbei Platz eins der FIFA-Weltrangliste. Im Dezember wurde Trainer Wilmots sogar zum Trainer des Jahres gekürt.
Die EM steigt in Frankreich, vom 10. Juni bis zum 10. Juli. Immerhin etwas, worauf sich zumindest Sportfans im Jahr 2016 freuen können.
Roger Pint - Bild: Achim Nelles/BRF
Wie so oft von Roger Pint (und so selten in unserer Presse ) ein hervorragender Beitrag
Gratuliere
Herr Grosch, Verzeihung, aber was ist hier so toll? Es ist eine bloße Auflistung von Ereignissen, die nicht einmal die verheerenden Erdbeben in Nepal beinhaltet.