Sommer 1995. Eine Geschichte nimmt ihren Anfang, in der sich später Abgründe auftun sollten. Am 24. Juni 1995 werden die beiden achtjährigen Mädchen Julie Lejeune und Melissa Russo entführt, genau zwei Monate später verschwinden auch die Teenager An Marchal und Eefje Lambrecks.
Spätestens jetzt macht sich Angst in der Bevölkerung breit. "Es muss etwas passieren", soll der damalige Justizminister Stephan De Clerck bei einem Treffen mit der Spitze der damaligen Gendarmerie gesagt haben. Und tatsächlich wurde schon wenige Tage eine neue Sonderkommission gegründet, die Abteilung "Vermisste Personen". Das war am 4. September 1995.
Der erste und bislang einzige Chef der Soko "Vermisste Personen" ist Alain Remue. Damals arbeitete er eigentlich bei der Drogenfahndung - bis der Anruf seiner Vorgesetzten kam, die ihn darum baten, die Leitung der neuen SoKo zu übernehmen.
Nach all diesen Jahren zieht Remue jetzt eine positive Bilanz: "Wir haben eine Aufklärungsquote von 97 Prozent", sagte Remue in der RTBF. "Zugegeben: 'aufgeklärt' heißt, dass wir die Akte schließen - das kann auch bedeuten, dass der Fall ein tragisches Ende genommen hat. In zwölf Prozent der Fälle konnte die verschwundene Person nur noch tot geborgen werden."
Die absoluten Zahlen sind beeindruckend: Knapp 24.000 Fälle hat die Soko "Verschwundene Personen" seit 1995 bearbeitet. Drei Prozent wurden nicht aufgeklärt, das entspricht dann doch auch ungelösten 769 Fällen.
Die "anderen Fälle"
24.000 verschwundene Personen - klingt nach einer enormen Zahl. Doch beinhaltet diese Zahl die ganze Bandbreite. Oft sind es Menschen, die sich aus freien Stücken nicht mehr melden, Ausreißer zum Beispiel. Oft sind es auch Demenzkranke oder Senioren, die sich verlaufen.
"Manchmal beschäftigt uns ein Fall nur eine halbe Stunde lang, dann war es meist ein Missverständnis"sagt Alain Remue. "Und dann gibt es eben die anderen." Alain Remue ist einer der wenigen Polizeibeamten, dessen Gesicht und Namen man im ganzen Land kennt. Denn er war dabei, als man Sabine und Laetitia lebend im Kellerverlies bei Dutroux fand. Damals habe man ja noch nicht ahnen können, dass man wenige Tage später die Leichen der vier anderen verschwundenen Mädchen entdecken würde.
Und es war auch seine Equipe, die im Juni 2006 die beiden Lütticher Mädchen Stacy und Nathalie fand, ermordet von Abdallah Ait-Out. Übrigens war er auch unlängst noch in Bütgenbach, als man im See nach einem Vermissten suchte.
"Unser Job ist nicht immer leicht", gibt Alain Remue zu. "Die schlimmsten Fälle sind aber die, bei denen es um Kinder geht." So war es auch Anfang 2011, als die beiden Schwestern Amélia und Alison in der Nähe von Lüttich in die Maas gefallen waren. Einen Monat lang hat man nach ihnen gesucht. Dabei kam ein Taucher des Zivilschutzes aufgrund unglücklicher und unvorhersehbarer Umstände ums Leben.
Alain Remue redet nicht über diese Geschichte. Er ist daran fast zerbrochen, hätte damals beinahe die Brocken hingeworfen.
"Niemand hat eine Elefantenhaut", sagt er lapidar. "Keiner kann behaupten, dass ihn die Arbeit nicht schonmal emotional belastet." Aber es entspreche nun einmal der Philosophie seiner Abteilung, dass man Schicksale aufklären will.
"Wenn wir jemanden nicht finden, dann ist das für uns eigentlich nur gleichbedeutend mit professionellem Frust: Haben wir nicht richtig hingeschaut? Was haben wir übersehen?, fragt man sich dann. Für die Angehörigen ist die Ungewissheit hingegen der absolute Albtraum. Was uns motiviert, das ist, den Familien Antworten geben zu können", sagt Alain Remue.
Roger Pint - Bild: Michel Krakowski/BELGA