Durcheinander, Wirrwarr, Chaos. Was die Französische Gemeinschaft da in den letzten 24 Stunden produziert hat, ist fast schon ohne Beispiel...
CESS, vier Buchstaben, die für Joëlle Milquet, die CDH-Unterrichtsministerin der Französischen Gemeinschaft, zum Albtraum geraten. CESS, das steht sinngemäß für "allgemeine externe Zertifizierung für das Sekundarschulwesen". Heißt also: Alle Schüler in der Französischen Gemeinschaft müssen dasselbe Examen ablegen, eine Art Matura, so ein bisschen nach dem Vorbild des französischen Baccalauréat. Das gilt bislang für die Fächer Französisch und Geschichte.
Am Dienstag stand an allen Schulen eigentlich das CESS im Fach Geschichte auf dem Programm. Eigentlich. Wenn da am Montag nicht das Katastrophenszenario eingetreten wäre: Auf Facebook hatte jemand eine Prüfungsfrage eingestellt. Die Info hatte schnell die Runde gemacht; unzählige Schüler waren in Nullkommanix auf dem Laufenden. Später stellte sich heraus, dass die kompletten Prüfungsunterlagen im Netz standen. Da blieb doch nur noch eine Möglichkeit, sagte Unterrichtsministerin Joëlle Milquet in der RTBF. "In einer solchen Situation hat man keine andere Wahl als die Prüfung zu annullieren."
Die Entscheidung wurde am Montagabend bekannt. Viele Schüler konnten nicht offiziell informiert werden; selbst Lehrer erfuhren nur über Umwegen von der Annullierung der Geschichtsprüfung.
Lehrer nicht informiert
Das nackte Chaos. Niemand wusste so ganz genau, wie es jetzt weitergehen sollte. Abiturienten fragten sich, ob sie überhaupt zur Schule gehen mussten. Und die Direktionen wussten ihrerseits so gar nicht, was sie jetzt machen sollten. Die einen haben buchstäblich über Nacht eine neue Prüfung ausgearbeitet; das sei auch den Schülern noch am Abend mitgeteilt worden, sagt ein Schuldirektor.
Alternative
Andere Schulen haben in ihrer Verzweiflung doch genau die Prüfung abgehalten, wie sie vorgesehen war, deren Fragen also schon im Internet zu finden waren. Er habe doch keine Zeit gehabt, sich ein neues Examen aus der Nase zu ziehen, sagt ein Geschichtslehrer. Und wenn die Fragen auch schon am Montag online gestanden hätten: das sorge nicht dafür, dass ein Schüler sich über Nacht von 40 Prozent auf 80 Prozent steigert, fügt der Lehrer hinzu... Das alles nur um zu sagen, dass am Dienstag im Grunde alles nur drunter und drüber gegangen ist.
Unterrichtsministerin Milquet will sich diesen Schuh aber nicht anziehen. Wenn man überhaupt von Wirrwar sprechen wolle, dann gelte das für die verantwortungslose Person, die die Fragen ins Netz gestellt habe. Milquet will denn auch Anzeige gegen unbekannt erstatten. Denn nach wie vor ist nicht mal ansatzweise klar, wo sich das Leck befunden haben könnte. Man wird wohl versuchen müssen, den Weg der Dokumente durch das Internet nachzuvollziehen.
Doch wie geht es jetzt weiter?
Was ist denn jetzt mit der annullierten Reifeprüfung? Das Gesetz sehe für diesen Fall eine Lösung vor: Wenn man die Prüfung nicht ablegen kann, naja, und das gelte ja jetzt für alle, nun, dann entscheide der Klassenrat, sagt Milquet. Und die Beurteilung erfolge dann auf der Grundlage der letzten Zeugnisse und Leistungen in der Klasse.
Die Opposition übte naturgemäß harsche Kritik angesichts des Durcheinanders. Am kommenden Dienstag soll Joëlle Milquet im zuständigen Ausschuss angehört werden; es wird wohl nicht die angenehmste Sitzung.
Doch nach dem Motto: ein Unglück kommt selten allein, gab es am Nachmittag einen weiteren Paukenschlag. 30 Polizisten führten eine Hausdruchsuchung in den Amtsräumen der CDH-Ministerin durch. Diese Aktion hat anscheinend nichts mit der verpatzten Prüfung zu tun, sondern steht vielmehr im Zusammenhang mit ihrer Zeit als föderale Innenministerin.
Die Justiz geht dem Verdacht nach, wonach das Kabinett Leute eingestellt hat, die dann aber für die CDH Wahlkampfarbeit betrieben haben sollen. In einer ersten Reaktion zeigte sich Milquet unbeeindruckt: Sie sei erfreut, dass die Polizei diese Routine-Untersuchung durchführe. Es werde nämlich Zeit, dass diese falschen Anschuldigungen endlich aus der Welt geschafft würden. Dennoch: es war wohl nicht der glücklichste Tag im politischen Leben von Joëlle Milquet...
Bild: Nicolas Lambert (belga)