Es war einmal eine Kamikazekoalition. Doch entgegen aller Kassandrarufe ist die nach fast einem Jahr immer noch in der Luft. Mal ehrlich: Wer vor einem Jahr auf eine solche Koalition gewettet hätte, er hätte wohl eine satte Gewinnquote eingesackt: Eine Regierung, der auf frankophoner Seite nur eine Partei angehört, die noch dazu noch nicht mal die stärkste ist: eigentlich undenkbar. Gekommen ist es dazu, weil auf frankophoner Seite beide Hauptakteure falsch gespielt haben.
Erst die PS. Wohl aus Angst, ausgebootet zu werden, traten die Sozialisten die Flucht nach vorn an und kündigten die Bildung einer Koalition auf regionaler Ebene an. Das war gegen die Absprachen: allgemein war vereinbart worden, dass alle Beteiligten erst die Bildung der föderalen Koalition abwarten sollten. Dies, um homogene, also gleiche Mehrheiten auf allen Ebenen zu ermöglichen.
Um's mal so auszudrücken: Wenn die N-VA genau das gleiche gemacht hätte und vorgeprescht wäre, alle hätten es als den ultimativen Beweis dafür betrachtet, dass die Nationalisten tatsächlich das Land spalten wollen. Und es ist durchaus nicht falsch, wenn Charles Michel heute behauptet, dass es eigentlich ab dem Moment nur noch zwei Möglichkeiten gab: Entweder, man versucht es ohne die PS, oder man riskiert eine lange, eine sehr lange Krise; mit ungewissem Ausgang. Es wäre nämlich politisch unklug gewesen, die N-VA außen vor zu lassen. Nur wollte Bart De Wever unter keinen Umständen mit den Sozialisten verhandeln.
So nachvollziehbar diese Analyse auch sein mag: Die MR hat dafür gleich eine ganze Reihe von markigen Aussagen und Versprechungen über Bord werfen müssen. Wie war das noch? "Wir koalieren nicht mit der N-VA", "Ich hasse Nationalismus", dixit Charles Michel. Solche Sprüche bleiben hängen. Und wenn Michel in dieser Woche behauptete, er habe sich in Sachen N-VA geirrt, naja, geirrt, oder nicht, es bleibt dabei, dass man den einen oder anderen Wähler doch ziemlich getäuscht hat.
Das spätestens mit dem Regierungsprogramm: Von einem Indexsprung war im Wahlkampf keine Rede. Und wie war das noch? "Wir rühren das Rentenalter nicht an". Vor allem in Gewerkschafter-Ohren klingt das heute wie der blanke Hohn. Und in der Wallonie werden die Liberalen dann immer wieder gerne daran erinnert, dass sie allenfalls ein Viertel der Menschen repräsentieren. Legitimität, das ist wohl was anderes...
Da gibt es aber ein Argument, dass den Liberalen im Moment Recht zu geben scheint: Die MR steht in den Umfragen eher gut da. Klar, Umfragen sind keine Wahlen, aber in Ermangelung kann man sie zumindest als Gradmesser zulassen. Und dieselben Umfragen deuten an, dass die Sozialisten eben nicht abheben, sondern, im Gegenteil, schwächeln. Ein Grund dafür ist wohl, dass sich die PS noch nicht wirklich mit ihrer neuen Rolle angefreundet hat. Mit lautstarkem Getröte in der Kammer geht man schnell nur noch als Kesselflicker durch. Und eine Politik, die im Grunde nur daraus besteht, das Gegenteil des verhassten Gegners zu machen bzw. zu predigen, das kann man auch nicht wirklich als visionär bezeichnen.
Der jüngste Vorstoß von PS-Chef Elio Di Rupo wirkt da fast schon pathetisch und hilflos: Wenn die Sozialisten wieder ans Ruder kommen, dann werde das Rentenalter wieder auf 65 Jahre zurückgeschraubt, versprach Di Rupo. Jeder weiß, dass das unrealistisch ist: Gleich wie es kommt, wird die PS nie alleine regieren. Und auf flämischer Seite dürfte sich keiner finden, der eine solche Entscheidung mitträgt. Da bewegt sich einer ziemlich hart an der Grenze zur Demagogie.
Also: Trotz des gewagten Spiels scheint die Rechnung der MR im Moment aufzugehen. Zu verdanken haben das die Liberalen aber auch und vor allem äußeren Umständen: Die N-VA trägt immer noch den gemeinschaftspolitischen Schafspelz: Wenn es Streit gibt, dann tobt der allein innerhalb des flämischen Lagers. Und die Nibelungentreue der CSC zur CD&V sorgt dafür, dass die Gewerkschaftsfront nicht zu hundert Prozent in Marschordnung ist.
Allerdings: All diese Punkte können sich sehr schnell ändern. Und das Fazit ist denn auch, dass es für ein Fazit noch viel zu früh ist. Ein momentweiser Sturzflug bedeutet nicht, dass man den Kamikazepiloten bereits identifiziert hat. Oder bodenständiger: Die Hühner werden erst am Abend gezählt.