In dieser Woche sind die drei Buchstaben wieder in aller Munde, zumindest im Brüsseler Regierungsviertel. Diskussionsgrundlage ist ein Kompromisspaket, das der königliche Vermittler Jean-Luc Dehaene nach monatelanger Sondierungsarbeit erstellt hat. Spätestens bis Donnerstagnachmittag sollte sich abzeichnen, ob eine Lösung möglich ist. Dann läuft nämlich die vorerst letzte Galgenfrist ab.
Doch was macht den Streit um einen Wahlbezirk so heikel und zugleich so gefährlich, nicht nur für die amtierende Regierung, sondern auch für das Land?
BHV, Brüssel-Halle-Vilvoorde: Das wohl letzte Relikt des belgischen Einheitsstaates. Der Wahl- und Gerichtsbezirk hat alle Staatsreformen überlebt, eben weil jeder am Ende doch die Finger davon gelassen hat. Aus gutem Grund. Für die einen ist BHV ein künstliches Problem, das es eigentlich gar nicht wert wäre, dass man darüber spricht. Für die anderen hat BHV fast schon existentielle Bedeutung. Doch, gleich wie man es dreht und wendet: hier geht es tatsächlich um die Zukunft des Landes.
Brüssel-Halle-Vilvoorde ist ein zweisprachiger Wahl- und Gerichtsbezirk. Er umfasst Brüssel sowie Teile der Provinz Flämisch-Brabant. Also: die 19 Brüsseler Gemeinden plus noch einmal 35 Gemeinden auf flämischem Boden. In der Praxis bedeutet das, grob vereinfacht: die französischsprachigen Bürger in den flämischen Gemeinden werden in entscheidenden Lebensbereichen weiter auf Französisch behandelt: bei einer Wahl und vor Gericht.
Da es sich um ein und denselben Wahlbezirk handelt, kann also zum Beispiel jede frankophone Partei, die in Brüssel antritt, auch von Menschen gewählt werden, die in einer der 35 flämischen Gemeinden wohnen. Das gilt für Parlaments- und Europawahlen. Für die Bewohner dieser Kommunen muss es sich also so anfühlen, als lebten sie gar nicht in Flandern. Vielleicht nicht im Supermarkt oder in der Apotheke, aber durchaus in politischen und juristischen Dingen.
Genau das ist Flandern ein Dorn im Auge. Flandern will die territoriale Einheit herstellen. Dies auch wegen der famosen Ölfleck-These: man muss die Ausbreitung des Französischen in den flämischen Gemeinden rund um die Hauptstadt eindämmen, um das zu verhindern, was in Brüssel und vor allem in den sechs Randgemeinden mit Spracherleichterungen längst Realität ist: in diesen urflämischen Gebieten ist die niederländische Sprache durch das Französische verdrängt worden.
Absolute territoriale Einheit, Schutz der flämischen Sprache: wohl die zwei Hauptgründe dafür, dass Flandern hier klare Verhältnisse schaffen will, namentlich eine Spaltung des Wahl- und Gerichtsbezirkes: Brüssel würde seine 19 Gemeinden umfassen, die 35 Kommunen aus Halle-Vilvoorde würden dem Bezirk Flämisch-Brabant angegliedert.
Das alles mag womöglich logisch und nachvollziehbar anmuten. Doch bewegt man sich hier im Herzen des belgischen Sprachenkompromisses, stellt sich mit einem Mal auch die Frage, ob ein Miteinander der verschiedenen Sprachgruppen in diesem Land auf Dauer überhaupt noch möglich ist.
Tatsächlich ist die gesamte Situation in und um Brüssel das Resultat eines enormen Kuhhandels. Die alleinige Existenz der Region Brüssel, ihre derzeitige Form, die Spracherleichterungen in sechs Randgemeinden, eine überproportionale und mitunter automatische Vertretung der in Brüssel gnadenlos minoritären Flamen in allen wichtigen Gremien, BHV, das alles ist im Grunde ein großes Ganzes. Und wer einen Aspekt dieses Gesamtpakets infrage stellt, der muss damit rechnen, dass die Gegenseite andere Kapitel auch noch einmal neu schreiben will.
Es bedarf also wieder eines jener typisch belgischen Kompromisse. Denn jegliche einseitige flämische Entscheidung wäre das Ende eben dieser Formel des Zusammenlebens, für die das Land einst berühmt war und die letztlich auch bislang den Mörtel gebildet hat. Ein solcher "Coup de Force" hängt allerdings wie ein Damoklesschwert über dem Brüsseler Regierungsviertel.
Stein des Anstoßes war die Reform der Wahlgesetzgebung durch die Regierung Verhofstadt im Jahr 2002. Der heutige Verfassungsgerichtshof hatte diese Reform gekippt. Grob zusammengefasst: der Wahlbezirk BHV stellt – weil er eben wieder nicht angerührt wurde - eine Ausnahme dar, und weil damit das Prinzip der Gleichbehandlung verletzt wird, ist das verfassungswidrig. Die Konsequenz aus dem Urteil: das Problem muss gelöst werden. Man könnte da zwar auch zu den alten Wahlbezirken zurückkehren. Für Flandern gibt es da aber nur eine mögliche Option: die Spaltung von BHV.
Im November 2007 stimmten alle flämischen Parteien im zuständigen Kammerausschuss für die bedingungslose Spaltung des Wahlbezirkes. Ein Votum im Plenum würde genauso ausgehen. Die Abstimmung in der Kammer wird also seither durch die Prozedur des Interessenkonfliktes verhindert. Der letzte Interessenkonflikt, der also die Akte auf Eis legt, wurde vom Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft geltend gemacht. Und der läuft bald aus.
In der Addition heißt das also: Es gibt ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes, wonach die "Anomalie" BHV beseitigt werden muss. Und es gibt den erklärten Willen der flämischen Parteien, BHV koste es was es wolle zu spalten. Koste es was es wolle, das heißt: notfalls auch ohne Kompromiss, also im Alleingang.
Jean-Luc Dehaenes Aufgabe war es also, eine verhandelte Lösung aus dem Hut zu zaubern, will heißen: der Wahl- und Gerichtsbezirk wird aufgespalten, die Frankophonen erhalten dafür aber Gegenleistungen. Spektakulärste Forderung, die da im Raum steht: die Erweiterung der Region Brüssel-Hauptstadt um die sechs Randgemeinden mit Spracherleichterungen. Das allerdings, und das wissen die Frankophonen haargenau, ist auf flämischer Seite absolut "onbespreekbar", unannehmbar.
In die Waagschale wollen die Frankophonen auch das Schicksal der nicht-ernannten Bürgermeister in drei Randgemeinden mit Spracherleichterungen legen. Herausspringen muss in jedem Fall, dass gewisse Rechte der Frankophonen im Brüsseler Rand auf immer und ewig betoniert werden. Welche Rechte genau, und in welchen Gemeinden? Diese Fragen zeigen den möglichen Kompromissspielraum auf.
Wenn es eine Lösung geben sollte, dann dürfte es in jedem Fall ein Musterbeispiel sein für die sprichwörtliche belgische institutionelle Klempnerarbeit. Und dafür ist Jean-Luc Dehaene ja eigentlich berühmt. Er hat den Mehrheitsparteien sowie den Grünen Anfang der Woche also sein Kompromisspaket unterbreitet. Danach zog er sich aus der ersten Reihe zurück. Ein Indiz dafür, dass die Gespräche zum Scheitern verurteilt sind? Die Frage ist zumindest erlaubt.
Ein Scheitern würde in jedem Fall wohl automatisch das Ende der Regierung bedeuten. Nicht nur, dass damit die belgische EU-Ratspräsidentschaft ernsthaft gefährdet würde, die ja Anfang Juli beginnen soll: ein Ratsvorsitz ohne Regierung, eine Blamage mehr vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Ein Sturz der Regierung über das BHV-Problem wäre aber vor allem der Beginn einer neuen Staatskrise, gegen die die letzte Staatskrise von 2007-2008 wohl noch ein Sonntagsspaziergang gewesen wäre.