"Schämen Sie sich, Herr Reynders!", toben Menschenrechtler. Die aus Nigeria stammende Autorin Chika Unigwe meinte gar auf Twitter, dass Reynders in jedem anderen Land zurücktreten müsse, nur eben anscheinend nicht in Belgien.
Internationale Medien beeilten sich, an die zugegeben wenig ruhmreiche belgische Kolonialvergangenheit zu erinnern. Auch die grausig-tragische Episode der abgehackten Hände wird gleich wieder bemüht. Didier Reynders in einen Topf geworfen mit Leopold II. ... Belgien als eine Art Insel, wo Rassismus immer noch frank und frei zelebriert wird...
Was ist denn da los? So laut das Getrommel in den sozialen Netzwerken, so verdattert sind die Belgier. Ob das nun für oder gegen die Belgier spricht, das ist wohl eine Frage des Blickwinkels.
Alles dreht sich um die Brüsseler Noirauds, was man eigentlich nur übersetzen kann mit: "Die Schwarzen". Die Noirauds sind längst fester Bestandteil des Brüsseler Brauchtums, quasi auf derselben Stufe wie der Ommegang oder der Meyboom. Seit fast 140 Jahren sammelt die Wohltätigkeitsvereinigung Geld für bedürftige Kinder. Regelmäßig bekommt auch der Manneken Pis das Kostüm der Gesellschaft verpasst. Zum 100. Geburtstag gab es 1976 sogar eine Sonderbriefmarke der belgischen Post.
Da gibt es nur einen Haken: Der gemeine Noiraud ist eben schwarz und trägt außerdem ein ziemlich skurriles Kostüm. Tatsächlich ist der Brauch eine direkte Reminiszenz des arroganten Europäischen Blicks auf Afrika im 19. Jahrhundert.
Ist im Namen der Traditionen alles erlaubt? Die Frage ist bestimmt berechtigt. Dass ein solcher Brauch von außen betrachtet anstößig wirken kann, nun ja, das ist vielleicht nachvollziehbar. Und genau vor diesem Hintergrund muss sich ein Didier Reynders durchaus die Frage gefallen lassen, ob er da nicht zur falschen Zeit am falschen Ort war. Zumindest in seiner Rolle als Außenminister.
Für alle, die nicht gerade Außenminister sind, sollte man aber doch bitte die Kirche im Dorf lassen. So lauter die Absichten der Kritiker auch sein mögen, ein solches Getöse ist eher kontraproduktiv. Die Kritiker praktizieren paradoxerweise genau das, was sie im vorliegenden Fall den Belgiern vorwerfen: eine Form von Neokolonialismus, zumindest geistigem. Empfunden wird das Ganze jedenfalls wie eine Bevormundung, eine Diktatur der political correctness.
Im Namen der political correctness ist schon "Pippi Langstrumpf" umgeschrieben worden. Die "Kleine Hexe" von Otfried Preußler übrigens auch. Der Comic "Tim im Kongo" vom belgischen Autor Hergé wurde in Großbritannien aus den Kinderbuchregalen verbannt und die Nachkommen der kanadischen Ureinwohner fordern jetzt, dass auch das Tintin-Abenteuer "Tim in Amerika" aus den Auslagen entfernt wird.
Hintergrund ist immer der gleiche: Weltbild oder Wortschatz der Werke werden als "rassistisch" gebrandmarkt. Auch der "Zwarte Piet", der belgisch-niederländische Hans Muff, steht schon seit zwei Jahren am Pranger. Eine Arbeitsgruppe des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte sieht in der Figur ein Spiegelbild des Klischees vom einfältigen Schwarzen.
"Haben wir wirklich nichts anderes zu tun, als uns mit solchen Petitessen zu befassen?", hört man da häufig. Und da ist was dran! Die wenigsten haben die Brüsseler Noirauds mit dem Gedankengut in Verbindung gebracht, das man ihnen jetzt andichtet. Und bestimmt nicht - das darf man wohl behaupten - ein Didier Reynders. Selbst Jozef De Witte vom Zentrum für Chancengleichheit sieht in dem Brauch kein Problem. Das Ganze habe nichts, aber auch gar nichts mit Rassismus zu tun, sagt De Witte. Und das Zentrum für Chancengleichheit ist nicht als zimperlich oder gar blauäugig bekannt.
Nein, durch dieses kleinliche Durchforsten von Literatur, Bräuchen und Sprache sorgt man allenfalls für Kopfschütteln. Schlimmer noch: Die Berührungsängste werden nur noch größer. Man weiß am Ende gar nicht mehr, was nun gerade politisch korrekt ist. Diese Erfahrung musste der britische Schauspieler Benedikt Cumberbatch machen. Der wollte eigentlich eine Lanze brechen für schwarze Schauspieler, verwendete aber das Wort "farbig".
Weil das wohl nicht mehr zeitgemäß ist, wurde Cumberbatch daraufhin durch die Internet-Foren gepeitscht, bis er sich zerknittert entschuldigte. Was lernt man daraus? Man sagt am besten gar nichts mehr.
Kein Zweifel: In unseren Gesellschaften darf es keinen Platz für Rassismus geben. Nur fragt sich, ob es einen Rassisten weniger gibt, wenn in Pippi Langstrumpf das Wort "Negerkönig" nicht mehr vorkommt oder wenn man morgen die Noirauds verbieten würde. Wer überpenibel nach rassistischen Echos früherer Zeiten fahndet, der erreicht allenfalls, dass sich die Menschen am Ende verständnislos abwenden.