Man muss kein militanter Atomkraftgegner sein. Man muss kein Grüner sein, kein Greenpeace-Mitglied, kein Berufsskeptiker, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass Doel 3 und Tihange 2 nie wieder angefahren werden dürfen.
Klar muss nicht grundsätzlich alles in Zweifel gezogen werden, was Electrabel, der Betreiber der Anlagen, in diesem Zusammenhang an Erklärungen geliefert hat. So mag es zum Beispiel noch nachvollziehbar sein, wenn Electrabel die spektakuläre Vermehrung der Mikrorisse mit besseren Messmethoden begründet. Je genauer man hinguckt, desto klarer wird eben das Bild. Wenn man denn überhaupt hinguckt.
Nicht vergessen: Im Moment geht man davon aus, dass die Mikrorisse in den Reaktorkesseln von Doel 3 und Tihange 2 ursprünglich auf einen Produktionsfehler zurückgehen. Das heißt, das Problem beschränkt sich womöglich nicht auf diese beiden belgischen Behälter - oder sollte man statt "womöglich" eher "wahrscheinlich" sagen? Man kann jedenfalls nicht ausschließen, dass sich das gleiche Problem auch noch anderswo auf der Welt stellt.
Im Grunde zeugt die ganze Geschichte eigentlich eher davon, dass die Belgier es mit der Sicherheit von Atomkraftwerken prinzipiell ernst meinen. Der endgültige Beweis für diese Behauptung steht allerdings noch aus. Zumal, wenn man die letzten Monate vor Augen hat.
Vor allem eine Frage lässt den kritischen Beobachter nicht mehr los: Inwieweit ist die Entscheidung von Mai 2013, die Meiler wieder hochzufahren, im Nachhinein vertretbar? Wie kann es sein, dass Atomreaktoren, die im Mai 2013 als sicher eingestuft werden, kaum ein Jahr später, im März 2014, wieder vom Netz genommen werden? Und das im Wesentlichen aufgrund derselben Probleme, die schon 2012 zur Abschaltung geführt hatten.
Eine Erklärung dafür gibt es. Diese Erklärung ist allerdings eher erschreckend denn erhellend: Im Kernforschungszentrum Mol hatte man längerfristig angelegte Tests durchgeführt, theoretische Hypothesen im Experiment überprüft. Und dabei stellten die Fachleute fest, dass die Mikrorisse die sogenannte Bruchzähigkeit des Stahlmantels viel stärker beeinträchtigen können als ursprünglich angenommen.
Im Klartext: Die Widerstandsfähigkeit der Reaktorkessel kann nicht zu hundert Prozent gewährleistet werden. Zwar hatte die Atomaufsichtsbehörde "Fank" besagte Testreihe angeordnet, inzwischen aber scheint klar, dass man die Ergebnisse besser abgewartet hätte, bevor man Grünes Licht gab, die Reaktoren wieder in Betrieb zu nehmen.
Im Grunde mag es also so aussehen, als sei man im Mai 2013 ein gewisses Risiko eingegangen. Ein "kalkuliertes Risiko", mögen die Protagonisten jetzt erwidern. Nur was ist ein kalkuliertes Risiko, wenn es um Atomkraftwerke geht?
Die chaotische Kommunikation der letzten Wochen über die neuen Messergebnisse, die mal lücken-, mal fehlerhaft war, hat dem Ganzen dann noch die Krone aufgesetzt. Erst wurde die Zahl der Mikrorisse immer größer, und dann auch die Mikrorisse selbst, die über Nacht nicht mehr neun, sondern auf einmal sogar 18 Zentimeter lang waren. 18 Zentimeter - wenn sie auch nicht dicker als ein Haar sind, bei 18 Zentimetern fragt man sich dennoch, wie denn ein "Makroriss" aussehen würde.
All das hat dazu geführt, dass der bis dahin eher makellose Ruf der Atomaufsichtsbehörde einen fetten Kratzer abbekommen hat. Und dabei ist eine Saat aufgegangen, die sich gerade für eine Behörde wie die Fank als hochgiftig erweisen kann: Die Saat des Zweifels. Hat die Behörde dem Druck von Electrabel nachgegeben? Hat sie über die Sicherheit mit sich feilschen lassen?
Ohne Fachmann oder Physiker zu sein: Man stellt sich jedenfalls die Frage, wie denn ein Argument aussehen soll, das am Ende alle Zweifel ausräumt. Sollten etwa neue Messreihen zu dem Ergebnis kommen, dass die Widerstandsfähigkeit des Stahls doch gegeben ist, was macht diesen Test glaubwürdiger als den ersten? Und wie oft will Electrabel noch neue Tests ansetzten? Gilt nicht am Ende: Was nicht passt, wird passend gemacht?
Das ist keine Unterstellung, es ist eine Frage, die spätestens dann legitim wird, wenn die Glaubwürdigkeit angeknackst ist. Alle Beteiligten - Electrabel und auch die Fank - hätten besser abgewartet. Durch ihr übereiltes Vorgehen haben nur sie dafür gesorgt, dass die Mikrorisse in den Reaktorkesseln zu Makrorissen in ihrer Glaubwürdigkeit geführt haben.
Jeder, der jetzt noch einmal die Wiederinbetriebnahme von Doel 3 und Tihange 2 beschließt, steht mindestens im Verdacht, mit der Sicherheit der Bevölkerung zu spielen. Ein Grund mehr, die beiden Meiler definitiv einzumotten.
Vorsicht beim Einmotten:
Bei dieser Vorgehensweise könnte es gut sein das einige das falsch verstehen.Steht dieser Begriff nicht auch für:aufheben, aufspeichern, bewahren, wegpacken, zurücklegen