Nein, ich glaube nicht, dass die Karikaturen und das globale Bekenntnis, Charlie zu sein, der Auslöser waren. Gewiss, das befeuert den Hass der Fundamentalisten, doch der Hintergrund dürfte ein anderer, weitaus realerer sein: die Anziehungskraft des Islamischen Staats: Der Islamische Staat befindet sich in einem Stadium, der im Jargon der Politikwissenschaft "nation building" heißt: ein Staat im Werden. Welche Rebellion hatte schon den Glücksfall für sie, in der Neuzeit, im territorialen Vakuum gescheiterter Staaten zu operieren. "Failed States", in der internationalen Fachsprache. Ja, es sind gescheiterte Staaten, der Irak und Syrien. Produkte des Ersten Weltkriegs, nach dem Ende des Osmanischen Reiches. Das Geheimabkommen zwischen Franzosen und Engländern, bestätigt im Versailler Vertrag, hatte bereits während des Weltkriegs dort zur Arabischen Revolte geführt. Hollywood bot sie die Kulisse für Peter O'Toole als Lawrence von Arabien.
Was zeigt, dass der Erste Weltkrieg nicht umsonst Weltkrieg heißt.
Inzwischen sind es nicht nur mehr Underdogs aus Borgerhout, Vilvoorde, oder Verviers, die es nach Syrien zieht, sondern auch im Beruf etablierte Personen, beispielsweise Ingenieure, eher Karrieristen als Glaubenskrieger, die wohl sehr gut wissen, dass der Islamische Staat Fachleute und Manager braucht, denn der Handel etwa mit Erdöl oder antiken Kunstschätzen kann nicht ewig auf Schmuggelbasis andauern.
Es ist also ein durchaus kritischer Moment für den Islamischen Staat, wenn er sich in seinem "nation building" von Bomben daran gehindert fühlt. Dabei sind auch belgische Kampfflugzeuge im Einsatz, auch diesmal, nach einer ganzen Reihe von Auslandseinsätzen der Armee. Das sagt mehr aus über Rolle und Stellenwert der Streitkräfte und des Landes als über den humanitären Elan.
Die durch die Zugriffe in Verviers vereitelten Anschlagspläne richteten sich gegen Organe des Staates, wie es heißt, gegen ein Polizeikommissariat. Der Vervierser Bürgermeister wusste von nichts und der Vervierser Zonenchef wurde erst kurz zuvor informiert. In Brüssel schlossen die Kommissariate vorübergehend ihre Türen. So dürfte in Belgien erneut eine Diskussion über die Aufgabenteilung aufflammen.
Dass der Lütticher Bischof beim Beginn der Polizeiaktion just in der Moschee in Verviers war, gibt der gesamten Problematik eine tragische, fast rührende Komponente. In der Moschee hatte er übrigens einen interessanten Satz zur Meinungsfreiheit gesagt: "Karikaturen bedrohen nicht das Wesen der Religion, sie sind eine Herausforderung, ihre wahren Werte hervorzuheben".
Ähnlich, mit anderem Schwerpunkt sieht es Charlie Hebdo in seiner Ausgabe: welche Leistung, mit solcher Eleganz auf das Gemetzel reagiert zu haben. "Gemetzel", darauf bestehen sie im Textbeitrag, nicht Attentat. Und sie verdeutlichen, was viele im Ausland nicht erkennen: Charb, Wolinski und Cabu kämpften für die Meinungsfreiheit, ja, aber vielmehr noch für ein laizistisches Frankreich, und für das Lachen als kulturhistorischen Durchbruch. Zu diesem Durchbruch wollten sie ihren Mitbürgern muslimischen Glaubens verhelfen. So schreiben es die Überlebenden in dieser Ausgabe. Und so definieren sie ihre humanistische Mission. Deshalb sehen sie sich auch als Kämpfer, und karikatural drücken sie es so aus: tote Dschihadisten im Paradies stellen mit Verdruss fest: die versprochenen Jungfrauen sind bei den Märtyrern von Charlie Hebdo, gezeichnet im kecken Stil des ermordeten Wolinski.