Acht von zehn Menschen sagen laut einer Gallup-Umfrage von sich selbst, dass sie glücklich sind. Diese Zahl stammt nicht aus Belgien, das ist vielmehr der Durchschnittswert der Menschen aus Afrika. Mehr als die Hälfte der Bewohner Afghanistans, Aserbaidschans, Pakistans, gar sieben von zehn Marokkaner sind überzeugt, dass 2015 ein wirtschaftlich besseres Jahr wird.
Und wir, die Belgier, die wir - gemessen an diesen Ländern - fast schon im Paradies leben? Nach besagter Gallup-Umfrage bezeichnet sich gerade mal die Hälfte als "glücklich". Ganze vier Prozent der Belgier gehen davon aus, dass dieses Jahr ein gutes Jahr wird. Unter 65 Teilnehmerländern ist das der schlechteste Wert.
Diese Umfrage spricht Bände. Dahinter verbirgt sich ein Malaise, das jeder Gesellschaft auf Dauer sehr gefährlich werden kann.
Belgien, um nicht zu sagen Europa, leistet sich gerade eine doppelte Sinnkrise. In beiden Fällen darf man das Adjektiv "existentiell" durchaus gebrauchen.
Zunächst ist unser Wirtschafts- und Sozialmodell an seine Grenzen gestoßen. Jetzt steht man vor einer fast unlösbaren Gleichung: Auf der einen Seite muss man die Finanzierung der Sozialsysteme neu organisieren, also konkret die Steuerlast senken, um die Wirtschaft des Landes wettbewerbsfähiger zu machen. Zugleich aber steigen die Kosten für Pensionen und Gesundheitsfürsorge kontinuierlich an. Und das alles soll auch noch weniger kosten. Man muss sich nur die Staatsschuld vor Augen halten. Diese Gleichung zu lösen, das wird nicht ohne Umbrüche gehen.
Hier kommt aber die zweite Sinnkrise ins Spiel: Denjenigen, die diese Neuordnung organisieren und verantworten müssen, denen vertrauen viele nicht mehr.
Vordergründig ist das ist nicht sonderlich schwer. Jeder hat sofort aus dem Stand ein halbes Dutzend Beispiele parat von einem schwarzen Politikerschaf. Natürlich waren es auch und vor allem die Politiker selbst beziehungsweise die Parteien, die ihre eigene Weimarisierung betrieben haben.
Poujadismus
Verallgemeinerungen sind aber immer falsch. Denn genau hier beginnt die Gefahrenzone. Nicht erst seit PEGIDA in Deutschland greift pauschale Fundamentalkritik um sich: Poujadismus. Alles ist schlecht. Politiker machen grundsätzlich alles falsch oder haben nur ihre eigenen Interessen vor Augen. Keiner will Steuern zahlen, aber alle wollen ein leistungsfähiges Krankenhaus um die Ecke, schöne Straßen, vorbildliche Schulen, bezahlbare und komfortable Altenheime.
Der Punkt ist: Jeder betrachtet im Grunde sein Leben als den allein gültigen Referenzrahmen. Alles, was da nicht hineinpasst, wird abgelehnt oder sogar als Grund allen Übels identifiziert. Bewusst überspitzt ausgedrückt: Der Arbeitnehmer gönnt dem Unternehmer die steuerlichen Entlastungen nicht. Der Selbständige hält alle Beamten für bezuschusste und noch dazu nutzlose Faulpelze. Wer gesund oder jung ist, stellt die Solidarität infrage, bis er einmal krank oder alt ist. Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger sind pauschal Sozialschmarotzer, Ausländer sowieso. Bis man sich einmal selbst in dieser Lage wiederfindet. Die belgische Variante wird prächtig von der N-VA verkörpert: Der faule Wallone hemmt den fleißigen Flamen in seiner Entwicklung.
Nehmen wir doch gleich eine Abkürzung: Der Staat, ganz besonders die EU, die allesamt korrupten Politiker, die allesamt gekauften Medien, die allesamt kriminellen Ausländer, ganz besonders die Muslime, sie allein haben unser Land ins Unglück gestürzt.
Das führt dazu, dass inzwischen täglich eine Sau durchs Dorf getrieben wird, wobei sich da meistens nur über Peanuts echauffiert wird.
Im Grunde spricht hier oft nur die Angst, die Angst vor der Globalisierung, die Angst vor einer - per se - unsicheren Zukunft, die Angst, von seinem Wohlstand einzubüßen, dass der andere einem die Butter vom Brot nehmen könnte. Wenn man sich so in der Welt umschaut, dann sind einige dieser Ängste in Teilen bestimmt berechtigt und auch nachvollziehbar. Und bestimmt war es auch ein Fehler, gewisse gesellschaftspolitische Entwicklungen zu tabuisieren. Im Moment gleichen aber gerade die europäischen Gesellschaften dem sprichwörtlichen Kaninchen vor der Schlange: Wir igeln uns ein, wir erstarren, und zwar in allen Belangen. Der weltweit einmalig ausgeprägte Pessimismus und der ungewöhnlich dicke Sparstrumpf der Belgier gehen da fast schon als Beweis durch, denn: Wer nicht an die Zukunft glaubt, der investiert auch nicht in die Zukunft.
2015 sollte man am besten mit dem Vorsatz starten, nur noch affirmative Sätze zu bilden. Negationen aller Art sind verboten. Also: Keine Wörter wie "nicht", "ohne" oder "kein". Konkret: Wer das derzeitige politische System und seine Protagonisten pauschal ablehnt, der sollte sich mal die Frage stellen, welches denn stattdessen sein bevorzugtes Modell wäre. Der eine oder andere wäre da wohl sehr erschrocken.
Poujadismus, das macht aus den Bürgern jedenfalls am Ende nur noch ein Kollektiv von Egoisten, die bei aller Nabelschau vergessen, dass sie Teil einer Gesellschaft sind und diese nicht nur ertragen müssen sondern auch prägen können.
Politik und Sozialpartner wären ihrerseits gut beraten, das Ganze nicht noch durch die derzeitige Hyperpolarisierung weiter zu befeuern, indem man die jeweils andere Sicht grundsätzlich verwirft.
Aus dieser doppelten Sinnkrise kommen wir nur gemeinsam wieder heraus.
Sehr geehrter Herr Pint,
weshalb verkriecht sich ein Mann wie Sie in einem Studio.
Leute wie Columbus brauchen wir.
Ich persönl.?
Kriegsgeneration!Am Ende meiner Karriere +/-350 Leute beschäftigt.Startkapital 0.
Bei den Schikanen in Belgien wäre das allerdings nicht möglich gewesen.
Also:sich bewegen,suchen und sich ständig weiterbilden.
Starten Sie!
Ich bin mittlerweile etwas zu alt.
Leute wie Sie (ich kenne Sie ein Wenig)braucht die Gesellschaft an der Front aufgrund der ständigen Veränderungen.
Ihr klarer Verstand ist vonnöten!
Herbert Schnitzler (Arbeitersohn)
dr.rer.pol./dr.rer.oec.
summa cum laude
Luxembourg
Luxembourg
Danke BRF, Danke Roger Pint. Ausgezeichneter Kommentar, und ein viel versprechender journalistischer Beitrag; Sie schreiben Impulse gebend, kritisch, wortgewandt, auf 2015!
Sehr geehrter Herr Pint ! Mit diesem Kommentar haben Sie sich wieder einmal selbst übertroffen. Vielen Dank für Ihre klaren Worte und ihre unbestechlich kritische Betrachtung der Dinge ! Sie gehören zu den Spitzenjournalisten ! Hoffentlich macht Ihr Beispiel Schule !
Exzellenter Kommentar, Roger Pint!
Zeitkritiker Hans Magnus Enzensberger könnte den Zeitgeist der zweifelnden, skeptisch bangenden Wohlstandseuropäer nicht besser auf den Punkt bringen.
Affirmative politische Partizipation - ein Leitbild für 2015.
Ich werde Ihren Artikel als Beispiel für konstruktive journalistische Analyse für meine Journalismusstudenten aufbewahren,
Georg BRANDT
Fremdsprachendozent
Ihecs Brüssel
Roger Pint : Der Name ist einfach Programm ! Glückwunsch zu dieser glasklaren gesellschaftlichen Momentaufnahme.
Ihr Aufruf zur "affirmativen Partizipation" klingt auf den ersten Blick sehr einleuchtend. Es stimmt: Viele von uns (nicht alle) klagen auf hohem Niveau. Mir wäre als Autor jedoch nicht ganz wohl dabei, wenn ausgerechnet ein Unternehmer (Firmensitz natürlich Luxemburg) und ein Mehrheitspolitiker mir Lob und Anerkennung zollen würden. Wer sein Schäfchen im Trockenen hat, kann leicht affirmative Partizipation einfordern. Aber was ist mit denen, die ihre Felle in zunehmendem Maße davonschwimmen sehen und die den Gürtel immer enger schnallen müssen?
Wer für einen Kurswechsel eintritt, der zugegebenermaßen auch den Verzicht auf lieb gewordenen Privilegien beinhaltet, muss zuerst benennen dürfen, was NICHT geht. Da muss es z.B. auch erlaubt sein Dinge wie Steuerflucht und Steuerhinterziehung beim Namen zu nennen. Und die Politiker, die den Wandel herbeiführen wollen, müssen zunächst einmal mit guten Beispiel vorangehen und bei sich selbst mit dem Sparen anfangen. Wenn Abgeordnete sich selbst ihre Diäten erhöhen und Regierungen Geld für Dinge ausgeben, die vielleicht nützlich, aber nicht unbedingt prioritär sind, dann kommt ihnen in Zeiten, in denen alle anderen sparen müssen, einfach die Glaubwürdigkeit abhanden.
Und das wird man doch wohl noch sagen dürfen, oder ... ?
Sehr geehrter Herr Pint, ich kann leider nicht in die überwiegenden Lobeshymnen über Ihren Beitrag mit einstimmen! Haben Sie den Armutsbericht 2014 in Belgien gelesen? Sie sprechen die belgische Staatsverschuldung an, berücksichtigen Sie auch deren exponentielle Progression? Sie benutzen als Argument den "ungewöhnlich dicken Sparstrumpf der Belgier" ohne zu erwähnen, dass 5% der Belgier 80% des Reichtums in Belgien auf sich vereinen, Tendenz steigend. Haben Sie die Fragestellung der Gallup-Umfrage in den afrikanischen Ländern kontrolliert - ich traue diesen Zahlen nämlich nicht. Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass belgische Kampfjets jetzt Menschen in Syrien und im Irak töten - auf der Basis des EU-Vertrages von Lissabon? Was sagen Sie zur Umwelt, den Böden, der Artenvielfalt, den Wäldern, Meeren, dem Vorsorgeprinzip bezüglich des Weltklimas? Sehr viele Fragen, Herr Pint, finden Sie, dass diese Fragen berechtigt sind?