„Eine Ikone", „Ein großer Belgier und Europäer", „Der Gründervater des neuen Belgiens", „Der beliebteste Politiker aller Zeiten": Es gibt zahlreiche Reaktionen auf den Tod von Staatsminister und Ex-Premier Leo Tindemans. Nach längerer Krankheit ist der flämische Christdemokrat am Freitag im Alter von 92 Jahren gestorben. Bis heute hält er den belgischen Vorzugstimmen-Rekord: Bei der Europawahl 1979 machten fast eine Million ihr Kreuzchen bei ihm.
In der Deutschsprachigen Gemeinschaft dürfte Tindemans in besonders guter Erinnerung bleiben, hat er doch stets die Autonomiebestrebungen der kleinsten Gemeinschaft des Landes unterstützt.
Im letzten BRF-Interview im Juni 2008 zeigte sich Tindemans fest davon überzeugt, dass die Belgier ihr Land lieben, aber dass Veränderungen nötig seien. Tindemans gilt als einer der Gründerväter des Belgiens der drei Gemeinschaften. Anfang der 1970er Jahre war die Idee völlig neu und bot einen Ausweg aus den zunehmenden Spannungen zwischen Flamen und Wallonen. Von Staatsreform zu Staatsreform habe man allerdings einen entscheidenden Fehler gemacht: Man habe die Teilstaaten gestärkt, nicht aber die föderale Ebene: "Ich bedaure, dass man nie versucht hat, für Belgien eine Lösung zu finden", erklärte Tindemans 2008.
Gründervater des Belgiens der drei Gemeinschaften

Leo Tindemans führte von 1974 bis 1978 zwei belgische Regierungen. Wie kaum ein anderer aus der nationalen Politik unterstütze er die Autonomiebestrebungen der deutschsprachigen Ostbelgier. In Eupen sagte er einst: „Hilf dir selber, dann hilft dir Gott" und forderte die Deutschsprachigen auf, selbst aktiv zu werden. Gleichzeitig bot er aber seine Hilfe an, um die Kulturautonomie für die kleinste Gemeinschaft des Landes zu ermöglichen. Der Schutz der deutschsprachigen Minderheit lag ihm am Herzen.
Auch später - in den 1980er Jahren - sprach Tindemans sich für die Übertragung weiterer Zuständigkeiten an die Deutschsprachige Gemeinschaft aus: "Die Flamen haben etwas zustande gebracht. Dass man das auch tut für 70.000 Einwohner, das ist keine Sünde, das ist nicht das Ende des Landes, wenn das zu der Entwicklung der Region beiträgt.”
Spektakulärer Rücktritt 1978
Die belgische Karriere des Leo Tindemans fand am 11. Oktober 1978 überraschend ein Ende. Der Grund: Der Egmont-Pakt, den die Regierungsparteien ein Jahr zuvor ausgehandelt hatten und der Belgien zu einem Föderalstaat machen sollte, war aufgrund von heftigen Protesten in der flämischen Bewegung gescheitert. In der Kammer verkündete Tindemans seinen Rücktritt: „Die Verfassung ist kein bloßes Stück Papier", echauffierte Tindemans sich 1978 im Parlament. „Nach den Beleidigungen der letzten Tage bleibt mir nur eine Wahl: Ich werden jetzt zum König gehen und ihm meinen Rücktritt anbieten."
Engagierter Europapolitiker
Wenige Monate später - im Frühjahr 1979 - beginnt Tindemans' zweite Karriere. Bei der Europawahl schafft er es auf knapp eine Million Vorzugsstimmen - so viele Wähler machten bis heute nicht mehr ihr Kreuzchen bei ein und demselben Politiker in Belgien. Für die CVP, den Vorläufer der heutigen flämischen Christdemokraten CD&V, erwies sich Tindemans erneut als Zugpferd.
Die Europäische Union, das war die zweite große Liebe von Tindemans. Schon in den 1970er Jahren wollte er einen Gang höher schalten in der EU und plädierte er für eine gemeinsame Währung sowie für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik.
Mit Leo Tindemans haben die flämischen Christdemokraten innerhalb eines Jahres nach Wilfried Martens und Jean-Luc Dehaene jetzt den letzten ihrer „drei Tenöre" verloren. Ein Kapitel in der belgischen Geschichte schließt sich damit.
Archivbild: Belga