Geprägt war diese Woche vom Generalstreik am Montag. Doch die Kraftprobe zwischen Regierung und Gewerkschaften dauert an. Vor allem die N-VA zeigt sich unnachgiebig, während die sozialistische FGTB schon wieder eine Streikwarnung hinterlegt hat. Der Graben zwischen dem rechten und dem linken Lager ist tiefer denn je. Was aber beide Lager verbindet, sind Allmachtsphantasien
Selbst politische Witze zu machen, ist deutlich heikler geworden. Das sagte unlängst ein Humorist in der RTBF. Die Polarisierung sei so stark, dass man riskiere, dass nur der halbe Saal lacht...
Diese Feststellung ist symptomatisch. Im Mutterland des "belgischen Kompromisses gilt jetzt also plötzlich: "Bist Du nicht für mich, so bist Du gegen mich". Jeder, der sich in dieses Korsett zwängen lässt, hat aber eigentlich schon verloren...
Beispiele: Ist derjenige, der die Aktionen der Gewerkschaften kritisiert, automatisch der heimliche Pressesprecher der Regierung? Oder, anders herrum gefragt: Heißt man automatisch Straßenblockaden gut, nur weil man die Politik der Regierung als unausgewogen empfindet?
Die Antwort in beiden Fällen ist: Nein!
Zunächst also zu den Gewerkschaften: Wie die sich inhaltlich aufstellen, das ist ihre Sache. Kritik an der Regierung ist nicht nur prinzipiell erlaubt, sondern in Teilen auch durchaus gerechtfertigt.
So weit, so gut. Bei der Frage, WIE die Gewerkschaften ihren Protest zum Ausdruck bringen, hört das Verständnis dann aber auch mitunter ganz schnell auf.
Streikrecht ist kein Freibrief für Anarchie. Ganze Industriegebiete abzuriegeln, am Ende schon Autobahnen zu blockieren - was ja in diesem Land sogar übereifrige Polizisten praktiziert haben -, das geht einfach zu weit. Mal abgesehen vom Schaden für die Wirtschaft: "Ein Streik muss wehtun", sagen die Gewerkschaften – es ist vor allem das Image Belgiens, das hier einen neuen Nackenschlag bekommt. Wer will denn in ein Land investieren, in dem so mancher Gewerkschafter immer noch eine morbide Faszination für die Streiks von 1960-61 an den Tag legt, ein Land, in dem der Rechtsstaat zwischenzeitlich in Teilen immer mal wieder ausgehebelt werden kann? Diese Form des Protestes gibt es so ausgeprägt jedenfalls nur in Belgien. Und man sollte einmal darüber nachdenken, was diese Feststellung über das Land aussagt. Eigenheiten sind nicht automatisch Tugenden. Wenn die Uhren anders gehen, heißt das nicht, dass sie richtiger gehen.
Es steht den Gewerkschaften jedenfalls nicht zu, sich pauschal zum Sprachrohr aller Bürger aufzuschwingen. Wenn es auch tatsächlich gute Gründe geben mag, gegen die Maßnahmen der Regierung zu protestieren. Ebenso erlaubt muss es sein, dass man ebendiese Maßnahmen für richtig hält. Man kann jedenfalls nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass man die Wahrheit gepachtet hat. Und man darf auch niemanden zu seinem vermeintlichen Glück zwingen wollen.
Hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad
Genau dieses demokratische Grundverständnis scheint den Gewerkschaften aber manchmal abzugehen. Zugegeben: Belgien gehört zu den Ländern in der Welt mit – gemessen an der Bevölkerung - den meisten Gewerkschaftsmitgliedern. Dieser hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad stellt die Arbeitnehmerverbände aber immer noch nicht über das Gesetz oder über die Politik. Ein ganzes Land lahmzulegen und Arbeitswillige von der Arbeit abzuhalten, dazu fehlt es den Gewerkschaften an Legitimität. In einer Demokratie zählt nämlich nur eins: das Urteil der Urne. Und diese Regierung ist demokratisch legitimiert. Wer insbesondere in der Wallonie glaubt, diese Tatsache angesichts der frankophonen Unterrepräsentierung infrage stellen zu dürfen, der ist genauso separatistisch unterwegs wie Bart De Wever.
Es sind nunmal in erster Linie das Parlament und die Regierung, die die Entscheidungen treffen. Das belgische Sozialmodell gibt den Gewerkschaften durchaus ein Mitspracherecht, manchmal sogar mehr als das. MITspracherecht, das heißt, was es heißt. Jedenfalls bedeutet das nicht, dass man einseitig Tabus dekretieren darf, die keine Regierung anzurühren hat. Das ist nämlich – und da hat die Regierung recht - das ist gleichbedeutend mit einer "Diktatur der Minderheit".
Der Punkt ist: Eine "Diktatur der Mehrheit" entspricht auch nicht dem Geist der Demokratie. Davor hatte schon der französische Intellektuelle Alexis de Tocqueville im 19ten Jahrhundert gewarnt. Keine Mehrheit im Parlament, und sei sie noch so eindeutig, gibt der Regierung einen Persilschein, um die Minderheit zu unterdrücken. Heißt: Auch eine noch so demokratisch legitimierte Regierung darf nicht jede Opposition gänzlich ausblenden.
Insbesondere N-VA und OpenVLD sollten also endlich die Kritik zur Kenntnis nehmen, wonach die Regierung total einseitig nur den Kleinen die Last aufbürdet. Man muss nämlich kein Gewerkschafter sein, um zu dieser Feststellung zu gelangen. Und solange dieser Eindruck der Ungerechtigkeit im Raum steht, wird der Protest eher lauter als leiser.
Wenn man aber insbesondere Bart De Wever hört, dann muss man den Eindruck haben, dass er mitunter dasselbe Demokratieverständnis hat wie die Moslembrüder beim gescheiterten Demokratie-Experiment in Ägypten. Nur weil er am Drücker ist, heißt das nicht, dass er fünf Jahre lang aus seinem Antwerpener Elfenbeinturm heraus allein entscheidet, wo es lang geht. Und insbesondere CD&V und MR wären gut beraten, De Wever in die Schranken zu weisen, vor allem wenn er immer wieder versucht, die Proteste allein in der roten Wallonie zu verorten. Diese These ist so falsch wie der Versuch plump ist, hier eine imaginäre gemeinschaftspolitische Spaltung heraufzubeschwören.
Also: nichts "entweder – oder", beide Seiten sind hier im Fehler. Und beide Seiten sind sich ähnlicher, als sie glauben, weil sie beide vergessen, dass sie nicht alleine das Sagen haben. Beide verbinden die gleichen Allmachtsphantasien und beide legen es auf eine Kraftprobe an, bei der es nur Verlierer geben kann.
Diktatur der Mehrheit, Diktatur der Minderheit. Das Wesen der Demokratie ist nicht umsonst der Kompromiss...
Da hat Roger Pint mir aus der Seele gesprochen. Ich bezweifele aber ob diese ewig Gestrigen der Gewerkschaften so logischer Rethorik folgen können. Nach den jüngsten Erlebnissen bevorzugen diese mehr die Polemik.
Herr Zeemann, Sie haben Herrn Pint nicht ganz verstanden; er hat gesagt: "beide Seiten sind hier im Fehler"! Sich nur das herauspicken, was einem in den Kram passt, geht doch nicht. Man muss immer bei der Wahrheit bleiben. Nicht nur die Gewerkschaften sind hier die Schlechten,auch und vor allem sind es die arroganten Politiker!!!!