Verzerrte Wahrnehmung – Belgier kennen Belgien nicht

"Ausländerflut", "drohende Islamisierung", "Arbeitslosenheer". Schlagworte, die man immer wieder liest und hört. Offensichtlich sind sie oft die Folge einer doch etwas verzerrten Wahrnehmung. Das zumindest ist eine mögliche Schlussfolgerung aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IPSOS.

Beispiel: Wie viele Einwanderer gibt es in Belgien? 29 von 100, sagen im Durchschnitt die Befragten; in Wahrheit sind es 10 Prozent; ein Unterschied von fast 20 Punkten. Anderes Beispiel: Wie viele Muslime gibt es in Belgien? Auch hier lautet die Antwort: 29 Prozent. In Wirklichkeit sind es sechs Prozent. In beiden Fällen wird die Einwanderungsproblematik fast schon maßlos überschätzt.

Die Fragen betrafen aber nicht nur den Themenkreis Immigration. "Wie viele Arbeitslose gibt es in Belgien?" 31 von 100, sagen die Befragten. Tatsächlich sind es acht von 100 - mal eben um 23 Prozentpunkte zu hoch gegriffen. "Wie viele Menschen über 65 gibt es in Belgien?" Vier von zehn, sagen die Befragten, in Wirklichkeit ist es die Hälfte: kaum 20 Prozent.
Anderes, noch flagranteres Beispiel: "Wie viele Teenager-Schwangerschaften gibt es?" Die Belgier denken, dass dieses Phänomen eine von zehn jungen Frauen zwischen 15 und 19 betrifft. Tatsächlich ist es noch nicht mal eine von 100: 0,7 Prozent.

Diese Studie sagt mehr aus über die Befragten beziehungsweise die Gesellschaft, als man vielleicht denken könnte. In der Zeitung Het Nieuwsblad erläutert ein Soziologe die möglichen Ursachen der zum Teil spektakulären Überbewertung einer gesellschaftlichen Realität. Demnach neigen wir dazu, die Dinge zu überschätzen, die wir als negativ empfinden. Nachdenklich stimmen mag einen das, wenn man die belgischen Resultate einmal mit denen in anderen Ländern vergleicht. IPSOS hat diese Studie nämlich in insgesamt 14 Staaten durchgeführt, wo den Menschen exakt dieselben Fragen gestellt wurden.

Also nochmal: Wie viele Einwanderer gibt es im Land? Der Belgien schätzt den Prozentsatz um 20 Punkte zu hoch ein, wie gesagt: 29 Prozent statt der in Wahrheit 10 Prozent. Damit belegt Belgien unter den Teilnehmerländern den dritten Platz. Nur in Italien und den USA wird der Immigrantenanteil noch krasser überschätzt. In Deutschland schätzen die Befragten den Immigrantenanteil nur um zehn Punkte zu hoch ein - ein halb so großer Unterschied wie in Belgien.

Belgien belegt sogar zusammen mit Frankreich den in dem Fall unrühmlichen Platz eins, wenn es um die Frage geht, wie viele Muslime es im Land gibt. Die Belgier und die Franzosen schätzen den Anteil um 23 Prozentpunkte zu hoch ein. Statt in Wahrheit sechs von 100, wie gesagt: 29 von 100.

Was sagt uns das? Nun, man muss kein Soziologe sein, um zu erkennen, dass wir dazu neigen, vermeintliche Probleme aufzubauschen, zu verallgemeinern. Verzerrte Wahrnehmung eben, die allerdings nicht ohne Folgen bleibt, wie unter anderem die Zeitung De Morgen festhält. Erstens: Wenn die Bürger von teilweise grundverkehrten Tatsachen ausgehen, dann ist eine nüchterne Debatte nur schwer möglich. Und daraus folgt der zweite Punkt: Für Populisten ist es in dem Moment nur noch einfacher, Bevölkerungsgruppen zu Sündenböcken zu stempeln.

Wie dem auch sei, die IPSOS-Studie zieht jedenfalls ihr Fazit in Form einer "Hitparade der Unwissenheit". Belgien belegt darin den 8. Platz unter 14 Ländern; gutes Mittelfeld immerhin. Platz eins und damit das Königreich der Unwissenheit ist Italien, vor den USA und Südkorea. Am besten Bescheid kennen ihr Land übrigens die Schweden, gleich gefolgt von den Deutschen.

Stichwort "Unwissenheit": der Belgier kann doch auch schonmal richtig liegen. Auf die Frage, wie hoch die Lebenserwartung eines Kindes liegt, das heute geboren wird, gaben die Befragten 81 Jahre an - fast richtig: die Lebenserwartung liegt bei 80 Jahren.

Archivbild: Eric Lalmand (belga)