Keine Staatsreform und auch keine 541-Tage-Dauerblockade - Belgien braucht offensichtlich keine politische Existenzkrise, damit sich ein explosiver Cocktail zusammenbraut, der das Potential hat, das Land zu zerfetzen.
In den letzten Tagen hat sich eine Dynamik entwickelt, die, falls das genauso weitergeht, auf Dauer nur außer Kontrolle geraten kann. Wenn jeder der Akteure seinen Kurs jedenfalls exakt so beibehält wie bisher, dann ist eine Frontalkollision vorprogrammiert - mit unabsehbaren Folgen.
Beispiel: Die Serie von wilden Streiks bei der SNCB. Es gibt offensichtlich immer noch Leute, denen nicht klar ist, dass sie an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. "Öffentlicher" Dienst: Der Kunde, sprich der Bürger, der einfach nur mit der Bahn zur Arbeit oder zur Schule fahren will, die unschuldigen Fahrgäste, sie stehen offensichtlich auf der Werteskala der Protestler immer noch ganz unten.
Alle, die sich angesichts der drohenden Protestwelle insbesondere bei der SNCB in den nächsten Wochen noch auf die Bahn verlassen, nun, die sind wohl verlassen. Wer glaubt, dass eine solche Situation auf Dauer tragbar ist, der leidet bestenfalls unter Allmachtsphantasien.
Dazu passt im Übrigen die Kommandoaktion vom vergangenen Dienstag, als Mitglieder der FGTB-Namur den Hauptsitz der MR in Brüsseler mit Paintball-Kugeln und Steinen bombardierten. Da haben offensichtlich zwei Busladungen voll Gewerkschafter den moralischen Kompass verloren.
Und offensichtlich nicht nur die: Definitiv übergelaufen ist das Fass, als dann auch noch Gewerkschaftsverantwortliche versuchten, den Vorfall zu rechtfertigen: Diese physische Gewalt sei lediglich eine logische Reaktion auf "intellektuelle Gewalt", hieß es da. Um Himmels willen! Das ist einer Demokratie unwürdig. Keine Regierungspolitik, und wird sie als noch so ungerecht empfunden, kann in irgendeiner Weise ein Freibrief für Gewalt sein. Wer so denkt, der disqualifiziert sich im Grunde nur selbst.
Befeuert von der PS ist insbesondere die sozialistische Gewerkschaft jedenfalls dabei, sich gefährlich hochzuschaukeln. Die sozialistische CGSP hat der MR schriftlich bereits den Krieg erklärt. "Krieg" im Wortlaut, wohlgemerkt!
Der Punkt ist allerdings: Wenn die Regierung wirklich die Absicht hat, die Wogen zu glätten, dann stellt sie sich dabei im Moment denkbar unbeholfen an. Man denke nur an den Zahlensalat bei der SNCB. Muss die Staatsbahn nun 660 Millionen oder über 2 Milliarden einsparen? Hat sich die MR nun verrechnet oder nicht? Verbindliche Antworten auf diese Fragen gibt es nach einer Woche immer noch nicht.
Anderes Beispiel: die Sparmaßnahmen bei den föderalen wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen. Institutionen wie die Monnaie oder der Bozar, wie das Magritte-Museum oder das Königliche Meteorologische Institut müssen tiefe Einschnitte hinnehmen: bis zu 30 Prozent ihrer Zuschüsse. Erfahren haben sie das übrigens mal eben nebenbei. 30 Prozent, das ist keine Sparmaßnahme mehr, das ist ein Todesurteil.
Vergleichbare Einrichtungen in Flandern oder in der Wallonie müssen allenfalls auf 7 Prozent ihrer staatlichen Dotationen verzichten. "Der belgischen und der Brüsseler Kultur droht der Blackout", warnte schon der Direktor der Monnaie. "Belgien" und "Brüssel", das sind zwei Worte, die im Wortschatz der N-VA wenn überhaupt dann nur unter Zwang vorkommen. Vielleicht erklärt ja das eine das andere.
Zwei Lager also, die beide mit dem Feuer spielen. Auf der einen Seite eine fast tollwütig anmutende linke Opposition, flankiert von den wallonischen Gewerkschaften, die sich schon in einem Guerilla-Kampf wähnen, während die flämischen Kollegen zumindest nach außen hin noch die Kirche im Dorf lassen. Wilde Streiks gab es jedenfalls ausschließlich in der Wallonie. Auf der anderen Seite die Regierung, die sich offensichtlich für den Weg durch die Vordertür entschieden hat, dabei aber viel zu oft auch noch die Treppe hochstolpert. Insbesondere die MR scheint dabei zu vergessen, dass die Koalition im frankophonen Teil nicht im Ansatz eine Mehrheit hat, also in der Praxis nicht durch den Wähler legitimiert ist.
Wenn jeder bei seiner Linie bleibt, dann kann aus einem sozio-ökonomischen Kulturkampf schnell eine gemeinschaftspolitische Atombombe werden. Da ist es nicht mal nötig, die N-VA und ihre vermeintliche versteckte Spaltungsagenda als Schreckgespenst zu bemühen. Schon jetzt und auch für Nicht-Nationalisten ist der Graben zwischen dem Norden und dem Süden des Landes unübersehbar.
Wenn jeder sein Spiel konsequent zu Ende spielt, dann liefert man am Ende vielleicht ohne es zu wollen die Bestätigung für die Thesen eines Bart De Wever. Dann droht ein waschechter Bruch.