Die Kammer wird am Donnerstagnachmittag ihre Debatte über das Regierungsprogramm der schwedischen Koalition fortsetzen. 21 Stunden lang hatten sich Mehrheit und Opposition am Mittwoch eine zum Teil heftige Auseinandersetzung geliefert.
Die Atmosphäre ist und bleibt nach wie vor recht giftig, doch nichts im Vergleich zu der Chaossitzung vom Dienstag, wo sich Mehrheit und Opposition fast im wahrsten Sinne des Wortes an die Gurgel gesprungen sind. Aber es gab doch immer noch den einen oder anderen Zwischenfall. Zum Beispiel hat CDH-Chef Benoît Lutgen den MR-Fraktionsvorsitzenden Denis Ducarme mehr oder weniger ausdrücklich als "Kollaborateur" bezeichnet. Das war natürlich gemünzt auf die Polemik um die Äußerungen beziehungsweise das Verhalten von den N-VA-Regierungsmitgliedern Jan Jambon und Theo Francken. Um es kurz zu fassen: Beide haben sich dem Verdacht ausgesetzt, dass sie die Kollaboration im Zweiten Weltkrieg eher relativieren. Die Opposition, vor allem die frankophonen Parteien, haben danach einen enormen Druck auf die MR ausgeübt, insbesondere auf Premierminister Charles Michel. PS, CDH und Ecolo forderten, dass sich Michel klar und deutlich von diesem Verhalten distanziert.
Premierminister Charles Michel hatte das schon in diversen Presseinterviews gemacht. Am Mittwoch hat er dann aber auch nochmal in der Kammer eine Klarstellung geliefert. Er hat sich irgendwann an das Rednerpult gestellt und Klartext geredet. Was er da in den letzten Stunden gehört habe, das sei an der Grenze zur Beleidigung gewesen, auch für ihn persönlich. Seine beiden Großväter hätten den Krieg erlebt. Einer von ihnen sei krank aus einem Lager zurückgekommen, wenig später sei er an den Folgen gestorben. Deswegen stelle er noch mal ganz deutlich klar, sagte der Premier: Er und die Regierung in ihrer Gesamtheit verurteilten Kollaboration in aller Form: Das sei ein Verbrechen, für das es keine Rechtfertigung gebe. Michel sprach ausdrücklich im Namen der gesamten Regierung, also auch im Namen der N-VA-Minister.
Über Inhalt des Regierungsprogramms diskutiert
Man hat am Mittwoch auch über den Inhalt des Regierungsprogramms diskutiert. Das hat aber im Grunde nichts an der allgemeinen Atmosphäre geändert. Mehrheit und Opposition stehen sich da mit gezückten Messern gegenüber. Man kann das wirklich so zusammenfassen: Die Mehrheit sagt unisono, dass man die Herausforderungen der Zukunft angehen wollte, dass es da im Grunde keine Alternative gegeben habe. Nach dem Motto also: "Wenn wir nicht Reformen durchführen, wie wir sie planen, dann fährt das System gegen die Wand."
Die Opposition sagt: "Reformen vielleicht, aber nicht diese!" Die Maßnahmen seien unausgewogen, die Zeche zahle allein der Kleine Mann. Die Schere zwischen arm und reich werde nur noch größer. Und dieser Graben zwischen Mehrheit und Opposition ist natürlich seit Mittwoch nicht kleiner geworden.
Gewerkschaften drohen mit Steik
Das gilt ja im Grunde auch für die Gewerkschaften. Die drei Verbände haben am Mittwoch eine Protestwelle angekündigt, die in einem Generalstreik gipfeln soll. Premierminister Charles Michel hat nochmal klargemacht, dass er weder blind noch taub sei angesichts der Proteste der Gewerkschaften. Es ist aber vor allem die CD&V, die in diesen Fragen sozusagen das Heft an sich reißt. Immer wieder hat der zuständige Arbeits- und Wirtschaftsminister Kris Peeters das Wort ergriffen, um die Maßnahmen zu erklären. Sogar CD&V-Chef Wouter Beke, der ebenfalls Parlamentarier ist, stieg zeitweise in den Ring. Das hat damit zu tun, dass die CD&V der christlichen Gewerkschaft nahesteht, zumindest der linke Flügel der CD&V.
Kris Peeters hat den Gewerkschaften die Hand gereicht. Man wolle natürlich dafür sorgen, dass der geplante Indexsprung die Schaffung neuer Arbeitsplätze mit sich bringe. Deswegen werde man auch den Dialog mit den Sozialpartnern suchen. Zu allererst mit den Arbeitgebern, um denen ins Gewissen zu reden, dass sie den Spielraum nutzen, um neue Jobs zu schaffen. Die Regierung hat auch angeboten, in der kommenden Woche den Gewerkschaften ihr Programm zu erklären.
Den Gewerkschaften reicht das aber nicht. Die Reaktion von Marc Leemans von der CSC steht da in gewisser Weise stellvertretend: "Wir suchen noch die ausgestreckte Hand der Regierung", sagt Leemans. Was er damit sagen will, könnte man so zusammenfassen: "Wie will man über Maßnahmen verhandeln, die schon beschlossen und in Beton gegossen sind?"
Konkrete Zahlen fehlten
In diesem Zusammenhang hatte die Opposition am Mittwoch den ganzen Tag lang kritisiert, dass die Mehrheit nach wie vor ihr Programm nicht beziffert hatte. Es fehlten also die konkreten Zahlen, um sich ein Bild machen zu können, was die Regierung eigentlich konkret plant. Das hat auch am frühen Abend zu einem offenen Streit geführt. Erst waren die Zahlen für Mittwochnachtmittag versprochen worden, dann kamen sie aber immer noch nicht. Vor allem die CDH und auch die Grünen wollten sich das aber nicht länger bieten lassen. Der Ecolo-Fraktionschef Jean-Marc Nollet: "Wo sind die Zahlen?", wetterte Nollet. "Hat die Mehrheit etwa etwas zu verbergen?" Die Bürger könnten sich jedenfalls immer noch kein Bild davon machen, was sie am Ende erwartet. Die Opposition forderte daraufhin sogar eine Unterbrechung der Sitzung.
Am Mittwochabend lagen die Zahlen dann doch vor: 11,2 Milliarden will die Regierung bis 2018 auftreiben: 8,3 Milliarden davon sind Sparmaßnahmen. Alle müssen den Gürtel enger schnallen, allein die SNCB muss zwei Milliarden Euro einsparen.
Bis 07:00 Uhr am Donnerstagmorgen haben die Abgeordneten über den Haushalt und das Programm debattiert. Am Donnerstagnachmittag soll die Kammer der neuen Regierung Michel das Vertrauen aussprechen. Es besteht aber kein Zweifel daran, dass das Parlament die neue Regierung definitiv auf die Schienen setzen wird.
Interview mit der ostbelgischen MR-Kammerabgeordneten Kattrin Jadin
Es war eine bewegte Woche in der Kammer. Die erste Sitzung nach der Sommerpause am Dienstag, bei der ja eigentlich die Regierungserklärung im Mittelpunkt stehen sollte, glitt streckenweise ins Chaos ab, es kam zu Tumulten. Die Opposition verlangte eine Klarstellung des neuen Premierministers Michel wegen der Polemik um die Haltung der N-VA zur Kollaboration im Zweiten Weltkrieg. Und auch die darauffolgende Debatte über das Regierungsprogramm – am Mittwoch und Donnerstag – war von Spannungen geprägt. Roger Pint sprach dazu mit der ostbelgischen MR-Kammerabgeordneten Kattrin Jadin.
Bild: Yorick Jansens (belga)