Was für ein Spektakel! Beobachter und Leitartikler sind sich einig, dass die Kammersitzung vom Dienstag kein Ruhmesblatt war. Tumulte, Gezeter, Theaterdonner: Mehrheit und Opposition lieferten sich eine harte und lautstarke Auseinandersetzung. Wichtigste Folge: ein etwas unsicher dreinschauender neuer Premierminister Charles Michel konnte erst einmal nicht das machen, wofür er ans Rednerpult gekommen war, nämlich: die Regierungserklärung vortragen.
Hintergrund war die Polemik um Aussagen beziehungsweise den Umgang einiger N-VA-Kabinettsmitglieder. Der neue Innenminister Jan Jambon hatte in einem Presseinterview die Kollaboration im Zweiten Weltkrieg gewissermaßen relativiert. Am Dienstag kamen dann Fotos ans Licht, die den neuen N-VA-Asylstaatssekretär Theo Francken auf einem Empfang zeigten zu Ehren von Bob Maes. Bob Maes war nicht nur verurteilter Kollaborateur, er war auch Gründer der Organisation VMO, die später ganz klar neonazistische Züge annahm.
Klarstellung verlangt
Grund genug für die Opposition, vom Premierminister eine Klarstellung zu verlangen. Die Mehrheit war ihrerseits der Ansicht, dass zunächst die Regierungserklärung im Vordergrund stehen sollte. Deswegen habe sie sich auch so aufgeregt, sagte die PS-Fraktionsvorsitzende Laurette Onkelinx in der RTBF. Kein Tag vergehe mehr ohne neue Meldungen über Umgang oder Aussagen von N-VA-Ministern und in diesem Zusammenhang dürfe ein Premier doch nicht schweigen, sagt Laurette Onkelinx.
Die anderen Oppositionsparteien schlugen in dieselbe Kerbe. "Wir wollten diese Debatte eigentlich gar nicht", sagt der Ecolo-Fraktionschef Jean-Marc Nollet. Es seien die N-VA-Minister, die über ihre Aussagen oder ihr Verhalten diese Polemik heraufbeschworen hätten. Sie müssten einsehen, dass sie jetzt ihrem Amt gerecht werden müssten. Der neue Premier sei ab jetzt nämlich der Garant für die Ehre des Landes, sagte CDH-Chef Benoît Lutgen. Deswegen müsse er die Haltung der N-VA-Minister klar und deutlich verurteilen.
Diese Klarstellung blieb der Premier dem Parlament erst einmal schuldig. Am Dienstagabend stand er dann aber der Presse in den beiden großen Fernsehsendern VRT und RTBF Rede und Antwort. Der Polemik entgehen konnte Michel freilich nicht. Er versicherte dabei, dass er sowohl mit Jan Jambon also auch mit Theo Francken gesprochen habe. Und beide hätten sich ihm gegenüber zu den demokratischen Grundwerten bekannt und versichert, dass sie die Kollaboration im Zweiten Weltkrieg als inakzeptabel betrachteten. Zugleich machte Michel klar: Eine solche Geisteshaltung in seiner Regierung könne und werde er nicht tolerieren. Er warne aber auch vor Naivität. Naivität in dem Sinne, dass es sich hier doch um ein sehr durchschaubares Manöver der Opposition gehandelt habe. Sie wollte wohl vom eigentlichen Inhalt der Regierungserklärung ablenken. Dabei gehe es doch eigentlich darum, diese Regierung und ihr Programm dem Bürger vorzustellen.
"Davon abgesehen", sagt Michel: Apropos Bob Maes: dieser Mann habe jahrelang für die damalige Volksunie im belgischen Senat gesessen. Und in den 70er Jahren hätten ausgerechnet PS, PSC und FDF zusammen mit dieser Volksunie eine Koalition gebildet. Da hätten diese Parteien also die Mehrheitsbänke mit dieser Person geteilt. Das finde er eigentlich noch schlimmer, sagte Michel in der RTBF. Ergo, sagen die frankophonen Liberalen MR: Das, was am Dienstag in der Kammer stattgefunden hat, das könne man bestenfalls als "Zirkus" bezeichnen. "Schade" sei das in jedem Fall für die Demokratie, sagte Michel.
Die Spirale hat sich aber inzwischen schon wieder weitergedreht. Wieder steht der neue N-VA-Staatssekretär Theo Francken im Kreuzfeuer. Jetzt sind E-Mails aufgetaucht, in denen Francken als Mitglied eines Zirkels innerhalb der N-VA firmiert, der den Namen VNV trägt. VNV, das stand zwar für "Flämisch-nationalistische Freunde", VNV steht aber auch für Vlaams Nationaal Verbond, eine rechtsextremistische Vereinigung, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierte. Außerdem macht Francken in den E-Mails homophobe, also schwulenfeindliche Äußerungen.
In der Kammer hat derweil die Debatte über die Regierungserklärung begonnen. Es wird erwartet, dass die Kammer der neuen Regierung das Vertrauen ausspricht.
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Bild: Bruno Fahy (belga)