Die flämischen Christdemokraten haben unzählige Staatsmänner hervorgebracht. Um nichts in der Welt hätte man früher ein solches Amt aus der Hand gegeben. Über Jahrzehnte hat die Volkspartei – fast schon selbstverständlich – den belgischen Premierminister gestellt. Man denke nur an Yves Leterme, Jean-Luc Dehaene, Wilfried Martens, Mark Eyskens oder Leo Tindemans.
Trotz der Namensänderung vor einigen Jahren verfügte auch die CD&V noch über dieses staatsmännische Selbstverständnis. Und so war die ganze Welt davon ausgegangen, dass Kris Peeters von der CD&V neuer Regierungschef würde – und das trotz des Umstandes, dass seine Partei nur die drittstärkste in der Schwedischen Koalition ist.
Die flämischen Christdemokraten scheinen plötzlich aus ihrem Traum aufgewacht zu sein: Sie sind nicht mehr die Platzhirsche von einst, haben über die Jahre deutlich an Einfluss verloren. Und so lässt sich die überraschende Wendung nachvollziehen: Peeters wurde nicht nur geopfert, weil Marianne Thyssen eine ausgezeichnete Kandidatin für die EU-Kommission ist und dort höchstwahrscheinlich ein mächtiges Ressort erhalten wird.
Es steckt mehr dahinter. Der Preis, den die CD&V diesmal für den Premierminister hätte zahlen müssen, wäre einfach viel zu hoch gewesen. Das muss den Unterhändlern während der Verhandlungen wohl bewusst geworden sein. Nicht nur jetzt, sondern immer wieder hätten die flämischen Christdemokraten zurückstecken müssen. Nach dem Motto: Ihr stellt als drittstärkste Kraft schon den Regierungschef, also haltet euch mit euren Forderungen gefälligst zurück.
Da war der sichere EU-Posten für Thyssen verlockender. Noch dazu, weil die CD&V sich erhofft, im Koalitionsprogramm mehr eigene Akzente setzen zu können. Das Mitte-Rechts-Bündnis plant harte Einschnitte, sozialwirtschaftliche Reformen. Da werden vor allem die Christdemokraten unter Druck stehen – denn nicht nur die Opposition, auch der eigene linke Parteiflügel droht auf die Barrikaden zu gehen. Indem sie bewusst auf den Premierministerposten verzichtet, versucht die CD&V inhaltlich zu punkten und die ein oder andere scharfe Ecke und Kante noch abzurunden.
Die Parteistrategen haben die Zeichen der Zeit also erkannt. Der ein oder andere CD&V-Politiker, der noch in alten Machtträumen schwelgt, für den dürfte es schwierig sein, sich mit der jetzt an den Tag gelegten Realpolitik anzufreunden.
Der neue Premierminister wird ein Liberaler sein: Charles Michel, Didier Reynders, Alexander De Croo, Gwendolyn Rutten, Patrick Dewael oder vielleicht sogar Maggie De Block. Für jeden der sechs Kandidaten gibt es sowohl Vor- als auch Nachteile.
Das Merkwürdigste aber ist, dass der eigentliche Wahlsieger, Bart De Wever, dankend auf das Amt verzichtet. Nicht gerade verantwortungsbewusst, aber die Eigenschaften "Premierminister Belgiens" und "oberster flämischer Nationalistenführer" scheinen für den N-VA-Chef nicht vereinbar zu sein. Außerdem würde er sein Lieblingsargument, Belgien lasse sich nicht regieren, ad absurdum führen, würde er an die Spitze der belgischen Regierung treten.
De Wever zieht die Strippen lieber im Hintergrund, nicht umsonst nennt man ihn den "Big Boss" am Verhandlungstisch oder den "Kaiser von Antwerpen" Und vor seine nationalistischen Anhänger in Flandern kann De Wever sich dann weiter mit breiter Brust hinstellen und erklären: "Voor Belgiekske: Nikske!".