Für die Ostbelgier war nicht nur der Ausgang des Krieges, sondern auch der Kriegsbeginn geschichtsprägend.
Dass man in Ostbelgien den Ersten Weltkrieg nicht oder kaum auf dem Schirm hat, ist schon sonderbar, andererseits aber auch verständlich.
Die Erzählungen - oder das Schweigen - der Eltern über die Zwischenkriegszeit, als sich entschieden werden musste zwischen "heimattreu" und "probelgisch", dann die Kriegszeit mit Todesanzeigen "in stolzer Trauer" , dann die Zeit der sogenannten Säuberung, deren Erforschung erst kürzlich begonnen hat.
Natürlich hatten einige den Weltkrieg schon auf dem Schirm, wie Herbert Ruland, der sich schon zu seiner Zeit als Aktivist der Volkshochschule bemühte, Interessenten zu den Spuren des Hochspannungszauns zu führen, der zwischen 1914 und 1918 den Übergang von Belgien nach Holland zu einem lebensgefährlichen Unterfangen machte. Was, ein Hochspannungszaun? Ungläubig staunte man, wusste man doch mehr über die punischen Kriege von Julius Cäsar als über den Ersten Weltkrieg.
Und jetzt: die Magie und die Kraft von runden Jahreszahlen. Sogar in Deutschland, seit Christopher Clark mit seinen Schlafwandlern dankbare Leser fand und findet.
Und als Ostbelgier stellt man plötzlich mit Erstaunen fest, wie sehr die Losung Berlins "Pardon wird nicht gegeben" noch stets vorhanden ist im kollektiven Gedächtnis im Landesinnern. So versteht man Geschichten aus Kindheits- und Jugendtagen, nachdem aus dem alten Spottwort "caboche" für "deutschen Dickschädel", unter Weglassung der ersten Silbe, das berüchtigte Schmähwort "boche" geworden war. Joachim Gauck in Cointe beschönigte nichts, beließ es aber dabei und glättete die Worte pastoral, bevor er in Löwen fröhlich winkend aus dem Auto stieg.
So richtig begeistert war François Hollande, der es kaum zu fassen schien, in Lüttich, Belgiens französischster Stadt, mal so richtig umjubelt zu werden, so, wie er es von Paris her nicht mehr kennen darf.
Zuvor hatte er in Cointe - bei der Veranstaltung, die doch eigentlich zum Frieden mahnte - Parteiergreifung gefordert (er nannte es "nicht neutral bleiben") in Krisenherden wie der Ukraine, in Gaza bis hin zu - la France oblige - im Libanon.
Bin ich paranoid, wenn ich in seiner Sprechweise und seinen Gesten - es fehlte nur der graue Kinnbart - seinen Vorgänger von 1914, Raymond Poincarré, sah? Poincarré, der unbedingt für Serbien Partei ergreifen wollte und mit dazu beitrug, dass der dritte Balkankrieg aus dem Ruder lief? Noch in der gleichen Woche der Gedenkfeier von Cointe reist der Generalsekretär der Nato, Anders Fogh Rasmussen, nach Kiew!
Poincarré gehörte der Generation an, die von der Schlacht von Sedan geprägt war - es ist die, an die auf dem Eupener Werthplatz das Denkmal des Drachentöters erinnert: 1870 begründete sie das Deutsche Reich,welches sich postwendend das Elsass einverleibte, und, was bedeutend schlimmer war, das urfranzösische Lothringen.
Nein, der Zweite Weltkrieg ist nicht so sehr eine Folge des Ersten, ging es beim Zweiten doch nicht um Elsass-Lothringen oder Eupen-Malmedy, auch, aber nur nebenbei, sondern es ging um ganz andere Ziele. Nein, verwobener als der Erste und der Zweite Weltkrieg sind der Erste und der vorangegangene deutsch-französische Krieg von 1870.
Wir Ostbelgier sollten das Gedenkjahr 2014 dazu nutzen, bei allem Verständnis für die bisherige Fixierung auf den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen, um uns der Zeit der Jahrhundertwende zuzuwenden, nicht der letzten, sondern der der Urgroßeltern, denke ich in Cointe, und weiter: noch so ein weißer Fleck auf der Geschichtskarte - nicht ganz weiß, aber es dürfte noch viel zu entdecken geben, über die Zeit des autonomen Generalgouvernements, von 1919 bis 1925, unter Herman Baltia, seinen Spitzenbeamten aus Brüssel und Preußen, und seinem zweisprachigen Amtsblatt in geschliffenem Deutsch.
Dann reißt mich der lange Zug der vielen dunklen Limousinen aus meinen Gedanken, als die Zeremonie zu Ende ist. Es ist ein Defilé von Staatskarossen, das so gar nicht passen will zu dem volkstümlichen Viertel, während aufgemalte weiße Tauben die vernachlässigte Basilika wie ein Graffiti übertünchen.
... auf den Punkt gebracht! Danke für den treffenden Kommentar, Frederic!