"Sire, il n'y a pas de Belges" ("Majestät, Belgier gibt es nicht") - diese Worte sind mehr als 100 Jahre alt. Sie stammen von Jules Destrée, einem der Urväter der Sozialistischen Partei Belgiens. Und er stammte nicht etwa aus Flandern, sondern aus Marcinelle bei Charleroi.
In seinem berühmten Brief von 1912 weist Jules Destrée König Albert den Ersten darauf hin, dass er "über zwei Völker herrsche, die Wallonen und die Flamen. In Belgien gibt es keine Belgier". Bart De Wever hat es im Wahlkampf nur unwesentlich anders formuliert.
Mehr als 100 Jahre und sechs Staatsrefomen später jubeln besagte Flamen und Wallonen - flankiert von den später hinzugestoßenen Deutschsprachigen - aber ein und derselben Fußball-Nationalmannschaft zu.
"Belgische Nationalmannschaft" - "Belgien"? "National"? Läge Belgien auf der Psychologen-Couch, man könnte dem Land auch ohne Jules Destrée wohl ohne lange zu zögern einen akuten Fall von galoppierender Schizophrenie bescheinigen. Das gilt insbesondere für Flandern, wo ein Drittel der Bürger eine Partei gewählt hat, die in Artikel 1 ihrer Satzung für die Schaffung einer unabhängigen Republik Flandern eintritt. Jetzt haben die N-VA-Plakate den belgischen Fahnen Platz gemacht.
Was ist da los?
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass wir gerade so eine Art belgischen Frühling erleben, dass das angeblich ach so zerrissene Land über Nacht zu einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl gefunden hat, dass ein Bart De Wever mit seinen Thesen von 23 jungen Sportlern und ihrem Übungsleiter Marc Wilmots ad absurdum geführt wird.
Hier ist aber wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens. Man wäre jedenfalls gut beraten, den Hype um die Roten Teufel nicht politisch zu deuten.
Dafür gibt es quasi einen Präzedenzfall. Hat der Vierte Platz der Belgier bei der WM 1986 das Land verändert? Haben sich die gemeinschaftspolitischen Streitigkeiten, die Zentrifugalkräft und die Autonomiebestrebungen danach mit einem Mal in Wohlgefallen aufgelöst? Fast 30 Jahre später wissen wir, dass dem nicht so war.
Und selbst wenn die Roten Teufel Weltmeister würden, was ja so mancher standhafter Optimist nicht ausschließen will, selbst dann hätten wir wohl keinen Tag früher eine Regierung.
Wer aber jetzt so tut, als passiere da im Moment so gar nichts, der lügt sich ebenfalls selber in die Tasche. Erstens: Fußball ist zwar nicht jedermanns Nebensache, dennoch ist eine Fußball-WM eben ein Weltereignis. Und wer sich da in den Vordergrund spielt, der stellt sich in eine Vitrine. Das bringt zwar nicht morgen Investoren ins Land, Belgien hat sich aber zumindest nochmal auf dem Globus platziert. "Einen besseren Imagefilm über Belgien hätte man nicht drehen können", sagte der amtierende Premierminister Elio Di Rupo. Und er hat Recht!
Zweitens: Man sollte zwar den Fußball Fußball sein lassen - man muss aber kein Tiefenpsychologe sein, um aus der Begeisterung um die Fußballnationalmannschaft doch auch den einen oder anderen gesellschaftspolitischen Schluss zu ziehen. Was die Belgier in diesen Zeiten vereint, ist der Wunsch, dass Menschen aus unserer Mitte auch mal positive Schlagzeilen machen, in dieser globalisierten Welt auch mal mit beachtlichen Leistungen wahrgenommen zu werden - es der Welt auch mal zu zeigen.
Was die Belgier vereint, das ist auch ihre Lebensfreude, ihre Feierlaune. Hier wurden nicht umsonst Bier und Schokolade veredelt. Und man muss nicht erst Weltmeister werden, um mit Freunden anzustoßen.
Das Ganze hat denn auch ganz wenig mit einem gleich wie gearteten Nationalstolz zu tun, sondern mit dem kollektiven Empfinden derselben Emotionen, derselben Genugtuung, derselben Glücksgefühle.
Rote Teufel als Abbild Belgiens
Die Roten Teufel bieten da die ideale Projektionsfläche. Die Nationalmannschaft hätte kein exakteres Abbild dieser Bewohner sein können, die zwischen De Panne und Eupen, zwischen Antwerpen und Arlon leben. Belgier: Flamen, Frankophone, manche mehrsprachig, andere nicht, die einen ohne, die anderen mit Migrationshintergrund, manche davon mit kongolesischen, andere mit nordafrikanischen Wurzeln, Jungs aus unserer Mitte, die alle Facetten des Landes zeigen. Und das ist so normal, dass das in Belgien - im Gegensatz zu Frankreich 1998 - niemand weiter hervorhebt.
Dass Flamen, Frankophone und Deutschsprachige, so genannte Einheimische wie so genannte Immigranten, dieselben Wünsche, dieselben Freude, derselbe Stolz beseelen, macht das Land nicht über Nacht wieder zu einer Nation - die Belgien im Übrigen, wie es schon Jules Destrée erkannt hatte, im politischen Sinne niemals war.
Vielleicht keine Nation, aber doch mehr als ein historischer Betriebsunfall - viel mehr. Wer seit fast 200 Jahren unter einem Dach lebt, den verbindet mehr als nur dieselbe Hausnummer. Das ist die Botschaft! Das sollten sich die Politiker hinter die Ohren schreiben, die grundsätzlich die Unterschiede hervorheben und dabei die offensichtlichen Gemeinsamkeiten ausblenden wollen.
"Sire, il n'ya pas de Belges" - stimmt! Es gibt vielleicht keine Belgier, aber es gibt Belgien und seine 11 Millionen Einwohner. Und die verbindet ein Belgisches Grundgefühl.