Es geschah in einem dieser Konferenzsäle großer Hotels in Brüssel. Eingeladen hatten die Wirtschaftsblätter "L'Echo" und "De Tijd". Und es hatte etwas von den großen Debatten, wie man von Amerika, Frankreich oder England her kennt, wenn sich die Präsidentschaftskandidaten der beiden großen Parteien an zwei Rednerpulten messen.
Dabei haben wir kein Mehrheitswahlrecht wie diese Länder, wo solche Debatten dann auch Sinn machen. Wo das ganze Land einen der beiden Männer oder Frauen auch wählt. Ihn oder sie wählt, weil die Bürger dies können, weil beide im ganzen Land zur Wahl stehen.
All das gibt es in Belgien nicht: Bart de Wever kann man nur in Flandern wählen, Paul Magnette nur im südlichen Landesteil. Jedenfalls solange es keinen föderalen, sprich landesweiten Wahlkreis gibt. Der wird auch nicht so schnell kommen. Eher kommt er nie - und dann wäre er auch nur ein Wahlkreis von vielen.
War die Debatte daher sinnlos, weil sie nicht ins belgische Wahl-Gefüge passt? Nein, denn sie brachte den Einsatz der kommenden Wahlen auf den Punkt. Zur Wahl stehen zwei Wirtschafts- und Sozialmodelle.
De Wever will das deutsche mit Hartz-Reformen - er nahm das Wort übrigens in den Mund - Magnette will es nicht. Beide warfen sich gegenseitig vor, die Grundlagen von Staat und Sozialversicherung zu schwächen, bzw. zu zerstören. Einen Sieger gab es bei dem Fight nicht, auch keinen Verlierer, wohl einige Erkenntnisse. Darunter de Wevers Ankündigung, in einer Mitte-Rechts-Regierung mitzuregieren und dafür lieber nicht mit der PS zu verhandeln.
Was geschieht nun, wenn, wie die Umfragen erwarten lassen, die N-VA Wahlsiegerin im nördlichen Teil des Landes wird, und die PS im südlichen? Das ist Kaffeesatzlesen und sollte daher unterbleiben. Auch die beiden Kampfhähne wurden bei ihrem Gefecht oder Scheingefecht - beides ist möglich - abschließend gefragt, ob es erneut 542 Tage oder gar länger dauern wird, eine neue Regierung zu formen. "Wenn man mir folgt, kann es sehr schnell gehen", sagte erwartungsgemäß der Antwerpener. Wenn nicht, durchaus lange, ließ er zwischen den Zeilen verstehen. Auch Magnette wollte nicht spekulieren, hoffte auf eine kurze Regierungsbildung und schloss eine lange nicht aus.
Eine Antwort auf die Frage: "Was dann?", gab es bereits Anfang der Woche. Man muss es sich einmal vorstellen: Jahrzehnte machten wilde Streiks in öffentlichen Unternehmen Schlagzeilen und erregten böses Blut bei frierenden und wartenden Menschen auf Bahnsteigen. Leitartikler schrieben sich die Finger wund, Politiker beschimpften sich und was tat sich: nichts. Ein Tabuthema. Doch Anfang der Woche erhielt im Finanzausschuss des Senats der Vorstoß der MR, Urheber und Teilnehmer unangekündigter Streiks bei der Bahn mit Bußgeldern zu bestrafen, neun Ja-Stimmen, von Senatoren der Liberalen und der CD&V und der N-VA. Fünf votierten mit Nein, die Senatoren von SP.A und PS.
Und damit wurde sie wieder etwas länger, die Liste von Gesetzen, die mit einer Wechselmehrheit zustande kamen bzw. kommen, wie erst kürzlich das Namensrecht und die Ausweitung der Sterbehilfe auf Menschen unter 18. Aber das waren ja auch ethische Fragen, wird man zu Recht einwerfen. Stimmt, aber bei der Eindämmung wilder Streiks geht es vielleicht um Arbeitsethik, nicht aber um Ethik im Sinne von Sterbehilfe ja oder nein.
Es geht knallhart um eine Wende in der Sozial-und Wirtschaftspolitik. In einem Kernbereich des Sozialrechts. Die wahre Premiere aber gab es in den berühmt-berüchtigten 542 Tagen der letzten Regierungsbildung. Da wurde aus einer Initiative von Parlamentariern von unter anderem MR und Abgeordneten der N-VA das Einbürgerungsrecht radikal beschnitten, "ni vu, ni connu", wie der Wallone sagt und "stilletjes", wie es der Flame ausdrückt. Nicht ganz so, aber fast.
Das könnte dann auch der Fahrplan sein, wenn es erneut hunderte Tage dauern würde, und vielleicht sogar für die Zeit danach. Ein Parlament, das sich neu erfunden hat, reloaded, neudeutsch. Wechselmehrheiten selbstbewusster Fraktionen.
Es wäre übrigens ganz im Sinne De Wevers: langfristig werde er sich durchsetzen, hatte er am Ende der Debatte angekündigt.
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