"Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen". Der berühmte Satz des schweizerischen Schriftstellers Max Frisch fasst alle Facetten der Zuwanderung zusammen. Zunächst die Arbeitskräfte: Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre suchte die belgische Schwerindustrie händeringend nach Arbeitskräften. Vor allem für die Kohlenminen an Sambre und Maas sowie in Limburg.
In einer RTBF-Reportage von 1970 erklären zwei Arbeitgeber die Problematik: "Wir finden keine Leute", sagen die beiden Unternehmer. "Wir haben in der Umgebung bei Arbeitslosen nachgefragt. Die wollten den Job aber nicht machen. Am Ende waren wir dazu verpflichtet, auf ausländische Arbeitskräfte zurückzugreifen."
Am 17. Februar 1964 kam die langersehnte Lösung: Belgien und Marokko schlossen ein Abkommen, das die Zuwanderung von Arbeitskräften ermöglicht. "In der Rückschau betrachtet kann man sich über den Zeitpunkt allerdings wundern", sagte die Historikerin Anne De Keyser in der RTBF. Als das bilaterale Abkommen unterzeichnet wurde, hatten die Minen ihre beste Zeit längst hinter sich. Viele steckten schon in der Krise, machten nach und nach zu. Und doch hörte man nicht auf, Arbeitskräfte anzuziehen. Und man suchte schon immer weiter nach ihnen.
In der Tat: Wenige Monate später, im Juli 1964, folgte ein weiteres Zuwanderungsabkommen, diesmal mit der Türkei. Beide Verträge gingen seinerzeit vollends unter. Beispiel: Der Baumaschinenhersteller Caterpillar erfuhr erst zehn Jahre später, im Jahr 1974, von der Existenz dieser Abkommen - genau zu dem Zeitpunkt, als die Programme stoppten.
"Wir wollten Arbeitskräfte und es kamen Menschen". So absurd es klingen mag, aber das hatte man irgendwie nicht immer auf dem Schirm. Zunächst waren es nur die Männer, die nach Belgien kamen, um zu arbeiten. Die mussten unter zum Teil unwürdigen Verhältnissen leben. Doch war den Arbeitgebern daran gelegen, dass sich die neuen Arbeitskräfte dauerhaft in Belgien niederließen. Deswegen wurden auch die Familienzusammenführungen vorangetrieben. Das gebe den Männern mehr Stabilität, sagten seinerzeit die Unternehmer: "Die Familienzusammenführungen wurden sogar staatlich gefördert. Vor allem in der Wallonie wollte man, dass sich die Leute dauerhaft ansiedelten", sagte auch die Historikerin Anne De Keyser. Ziel sei es auch gewesen, die Wallonie dadurch zu verjüngen. Der Vergreisung entgegenzuwirken, das war schon in den 1960er und 1970er Jahren durchaus ein Thema.
Die Abkommen von 1964 haben zweifelsohne die belgische Gesellschaft grundlegend verändert: Inzwischen leben in Belgien 400.000 Menschen mit marokkanischen Wurzeln und nochmal 150.000 türkischstämmige Mitbürger.
1974, genau in dem Augenblick, als das Immigrationsprogramm eingestellt wurde, kam es aber zu einem bemerkenswerten Ereignis, sagte die Forscherin Fatima Zibouh vom Lütticher Institut für ethnische Identität und Migrationen. Belgien habe zu den ersten Ländern gehört, die den Islam als Religion anerkannt hatten. Damit habe man auch die kulturelle Identität dieser Einwanderer gewürdigt:
Mit Immigration verbunden ist auch häufig der Begriff "Integration". Die Zeitung Le Soir spricht in diesem Zusammenhang am Montag von einem "langen und chaotischen Weg". Davon abgesehen: junge Menschen mit marokkanischen Wurzeln reagierten oft allergisch auf das Wort "Integration". 50 Jahre nach Beginn der marokkanischen Zuwanderung stelle sich diese Frage nicht mehr, sagen viele Betroffene in der Zeitung. Und es gebe mehr Brücken zwischen den Gemeinschaften, als es da häufig dargestellt werde. Die Brüsseler Kulturszene sei inzwischen durchaus geprägt von Leuten mit marokkanischen Wurzeln, sagt die Forscherin Fatima Zibouh. "Diese Leute gestalten die Brüsseler Kultur mit. Und damit auch die Kultur unseres Landes."
Belgien und Marokko schlossen ein Abkommen, das die Zuwanderung von Arbeitskräften
Bild: belga