Aktive Sterbehilfe bei Minderjährigen: "Sterbehilfe" und "Kinder" - jeder, wirklich jeder, der diese beiden Worte zum ersten Mal in ein und demselben Zusammenhang hört, ist zunächst verwirrt, perplex und schockiert, jedem geht ein Mühlrad im Kopf herum.
Und auch, wenn man sich einmal innerlich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, und gleich, wie man am Ende dazu steht: Es ist und bleibt eine extrem heikle Materie, schwierig, schmerzlich, persönlich. Befürworter wie Gegner haben Argumente, die nachvollziehbar sind. Hier gibt es nicht nur schwarz und weiß. Und hier gibt es auch keine Sieger oder Verlierer.
Ein Schweigen sagt manchmal mehr als tausend Worte. Nach der Abstimmung im Parlament, als Kammerpräsident André Flahaut verkündete, dass das Gesetz mit 86 zu 44 Stimmen bei 12 Enthaltungen angenommen wurde, gab es keinen Applaus, wie sonst üblich. Stattdessen nur andächtige Stille.
Denn, Befürworter wie Gegner, jeder wusste: Das war keine Abstimmung wie jede andere. Genau diese Abgeordneten, die Senatoren mit eingeschlossen, die dieses Gesetz über Euthanasie für Minderjährige verabschiedet haben, genau diese Parlamentarier sollen das Land aber mit ihrer Entscheidung auf eine schiefe Bahn gesetzt haben. Im In- aber vor allem aus dem Ausland ist jedenfalls ein Gewittersturm der Kritik über Belgien hereingebrochen.
"Mit dieser Entscheidung verabschiedet sich Belgien von den gemeinsamen humanitären Werten in Europa", donnerte etwa die Deutsche Stiftung Patientenschutz in der FAZ. In der französischen Zeitung Le Figaro schwadroniert ein Philosoph über den Utilitarismus der modernen Welt, auf dessen Grundlage störende, schwache oder kranke Menschen eliminiert werden.
Im christlichen US-Fernsehsender CBN verwies ein Moderator auf die Menschenrechtsverbrechen im Kongo unter Leopold dem Zweiten, und schlussfolgert, die Belgier seien noch nie für ihr Mitgefühl bekannt gewesen.
Ganz zu schweigen von der Hetze im Internet, angefangen bei bösartigen Parallelen, die zwischen der Euthanasie für Minderjährige und der Dutroux-Affäre gezogen werden, bis hin zum Vergleich mit der "Aktion T4", also den Euthanasiemorden in Nazideutschland.
Mit Verlaub, aber jetzt reicht es!
Glauben diese Leute allen Ernstes, dass ein ganzes Land den moralischen Norden verloren hat? Dass in Belgien ab jetzt kranke Kinder "mal eben so" totgespritzt werden können? Dass hier etwa Kindermord legalisiert wird? Das ist eine dumme, arrogante Unterstellung! Eine Beleidigung! Nicht nur für die Politische Klasse des Landes, sondern auch die Bürger, die sie repräsentiert.
Wer kann denn allen Ernstes davon ausgehen, dass diese Politiker kein Gewissen haben? Dass hierzulande jetzt alle Dämme brechen? Dass jetzt - um es mal drastisch auszudrücken - die Kinderstationen mit der Giftspritze geleert werden?
Nein! Hier geht es um menschliche Dramen. Hier geht es um Tragödien, über die man eigentlich gar nicht nachdenken, geschweige denn sie erleben will. Hier geht es um Extremsituationen. Hier geht es um Kinder, die den Tod vor Augen haben. Die mitunter schon unzählige chirurgische Eingriffe hinter sich haben. Die nicht mehr zu retten sind. Die sich im terminalen Stadium befinden. Die unsägliche Schmerzen erleiden müssen.
Die bekommen jetzt die Möglichkeit, darum zu bitten, aus dem Leben zu scheiden. Dabei wird ihre 'Urteilsfähigkeit' von Ärzten und einem Psychiater untersucht. Und Studien belegen, dass diese Kinder aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte mitunter tatsächlich eine für ihr Alter erstaunliche Reife entwickelt haben. Und am Ende müssen noch die Eltern einwilligen. Glaubt irgendwer, dass belgischen Eltern so etwas leichter fällt, als anderen auf der Welt?
Viele solcher Fälle gibt es im Übrigen nicht, das zeigt das Beispiel Holland, wo Sterbehilfe für Minderjährige ab zwölf Jahren seit gut zehn Jahren erlaubt ist und wo bislang nur fünf Mal davon Gebrauch gemacht wurde. Dies alles nur zur Erläuterung des Gesetzes, und um den Verdacht zu entkräften, Belgien stelle hier einen gleichwie gearteten Persilschein aus.
Wie man jetzt persönlich damit umgeht, das ist eine persönliche Angelegenheit. Das ist es und das bleibt es auch. Das Gesetz ist immer nur eine Möglichkeit, keine Pflicht.
Kritiker bemängeln nicht zu Unrecht, dass hier der Eindruck entstanden ist, dass das Ganze übers Knie gebrochen wurde, dass man sich mit der Debatte vielleicht mehr Zeit hätte nehmen müssen. Das zeigte sich spätestens, als eine Reihe von Kinderärzten plötzlich ihre Bedenken öffentlich machte. Das gibt durchaus zu denken.
Ist das Gesetz dafür schlecht? Nein! Ist es perfekt? Wohl auch nicht! Aber eins muss doch Befürwortern wie Gegnern gleichermaßen einleuchten: Ein wenn auch vielleicht nicht mustergültiger Rechtsrahmen ist immer besser als eine Situation, die in der Praxis manchmal einem Vakuum gleichkommt. Oder glaubt jemand, dass der Gedanke an Sterbehilfe erst durch ein Gesetz entsteht? Ethische Fragen über das Lebensende stellen sich jeden Tag. Und die man kann bestimmt nicht beantworten, indem man nicht darüber redet.
Gleich welche Antworten jeder für sich zur Richtschnur macht: Belgien hat Mut bewiesen. Den Mut, eine tabuisierte Debatte zu führen. Eine Debatte über etwas Ur-menschliches, nämlich den Tod. Wohlwissend, dass es im Zeitalter von Twitter und Co. fast unmöglich ist, eine Problematik zu veranschaulichen, deren Nuancen nicht in 140 Zeichen ausformuliert werden können.
Eine solche Debatte zu führen, ist ein Zeichen von Reife. Nicht von moralischer Entartung.
Sehr gut verfasster Beitrag zu diesem heiklen Thema!
Danke Herr Pint.
Besser kann man diesen Thematik nicht kommentieren.
"Mit Verlaub, aber jetzt reicht es!" sagt der Kindermörder, wenn man ihn der Unmoral bezichtigt. Das wäre ja noch schöner! Aber Mord bleibt Mord - ob man sich dabei in einer Extremsituation fühlt oder vorher mutig eine tabuisierte Debatte führt, spielt nicht die mindeste Rolle. Faktum bleibt, daß Belgien heute das Umbringen von Kindern legalisiert hat und damit aus dem Wertekonsens der zivilisierten Menschheit ausgeschieden ist.
Sehr guter Kommentar !
Das Niveau auf dem die Diskussion im Ausland z.T. geführt wird verdeutlicht die Aussage eines deutschen Uni-Professors, der allen Ernstes argumentierte, wenn er heftige Zahnschmerzen habe, würde er auch an Euthanasie denken !? Man könne einem Kind eine solche Entscheidung nicht überlassen, da seine Wahrnehmung in einer solchen Situation getrübt sei. So einfach kann man es sich machen, um sich zu entrüsten.
Bisher fand ich das Gesetz zur Sterbehilfe in Belgien sehr fortschrittlich. Aber bei Kinder? Ein heikles Thema.
Die Aufregung in den deutschen Medien um dieses Thema ist groß. Aber wieviel ungeborene Kinder werden jährlich auch in Deutschland abgetrieben? Ist das denn nicht auch massenhafte Euthanasie an vielleicht gesunde Kinder? Wenn man so undifferenziert argumentiert wie gewisse deutsche Medien.
Im übrigen ist das ein sehr guter Kommentar von Herrn Pint, dem ich voll zustimmen möchte.