"Der Soziale Dialog ist tot", hieß es noch vor einigen Tagen. So nach dem Motto also: Arbeitgeber und Gewerkschaften können sich noch nicht einmal mehr darauf einigen, worüber sie eigentlich reden wollen. Diese Einschätzung war offensichtlich vorschnell. Am Montagabend haben die Sozialpartner jedenfalls den Beweis erbracht, dass sie durchaus noch dazu imstande sind, sich zusammenzuraufen. Allerdings müssen sie es offensichtlich immer spannend machen.
Auf dem Tisch der genannten "Zehnergruppe", in der die großen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vertreten sind, lagen einige heikle Akten. Erstens: der Index. Die automatische Kopplung der Gehälter an die Preisentwicklung, das ist für die Gewerkschaften die heilige Kuh schlechthin.
Anlass für die neuerliche Diskussion war eine Anpassung des Index-Korbs. Hier geht es um die Artikel, die in der Waagschale liegen, wenn es darum geht, die Teuerung zu ermitteln. Dieser Korb muss immer mal wieder aktualisiert werden. Beispiel: Der Videorekorder, der fast schon in Vergessenheit geraten ist, wird nicht mehr berücksichtigt, dafür jetzt aber der Tablet-Computer. CD's sind auch nicht mehr im Index-Korb, hinzugefügt wurde aber die elektrische Zahnbürste.
So logisch und nachvollziehbar diese Aktualisierung auch ist. Jedes Mal, wenn es um den Index geht, führt das gleich zu einer allgemeinen Verkrampfung. Die Arbeitgeber machen keinen Hehl daraus, dass sie den Index am liebsten abschaffen würden, damit die belgische Wirtschaft konkurrenzfähig bleibt. Und genau deswegen sind die Gewerkschaften, sobald es um den Index geht, immer besonders argwöhnisch und auf der Hut.
Neufestlegung eines zentralen Multiplikators
Verbunden war diese Anpassung mit einer Neufestlegung eines zentralen Multiplikators. Dieser Koeffizient bestimmt, inwieweit die Preissteigerung tatsächlich den Index beeinflusst: Wird die Teuerung "eins zu eins" auf die Gehaltsentwicklung umgelegt, oder schwächt man den Einfluss ab...?
Das Ergebnis dieser Verhandlungen ist denn auch gleich wieder eine Frage der Interpretation. Die linksgerichtete Zeitung De Morgen etwa schreibt am Dienstag auf ihrer Titelseite, dass die Löhne in den kommenden zwei Jahren langsamer steigen werden. Ganz andere Lesart bei Agoria, dem Verband der Technologie-Unternehmen. "Hier wurde der ungünstigste Schlüssel gewählt. Der neue Index wird die Unternehmen 180 Millionen Euro kosten".
Ziemlich widersprüchliche Schlussfolgerungen, also. In einem solchen Fall, also wenn der eine schwarz und er andere weiß sagt, da lehrt die Erfahrung, dass die Partner wohl die Mitte getroffen haben.
Fakt ist jedenfalls: Die Indexanpassung war den Sozialpartnern zu heiß, um das Thema alleine abzuhandeln. Man hat also noch andere Akten in die Verhandlungen reingepackt. Das erleichtert die Suche nach einem Kompromiss. Man erhöht die Zahl der Stellschrauben. Dabei gibt das belgische Nationalmotto bei Verhandlungen, das da lautet: "Le Tout est dans le Tout", sprich: Es gibt nur eine Einigung in einem Teilaspekt, wenn es eine Einigung für das Gesamtpaket gibt.
Kündigungsschutz und Pensionen
In besagtem Gesamtpaket waren denn auch noch zwei weitere, ebenso heikle Dossiers, die beide mit dem Einheitsstatut zu tun haben. Einheitsstatut, das bedeutet ja, dass die Rechte und Pflichten von Arbeitern und Angestellten einander angeglichen werden. Auf das Prinzip hat man sich bereits im vergangenen Jahr verständigt. Jetzt muss das aber noch in einigen Teilbereichen ausformuliert werden.
Beispiel Kündigungsschutz. Bislang galt, dass der Arbeitgeber allein die Entlassung eines Arbeiters ausdrücklich begründen musste. Angestellte waren hier ausgeklammert. Ab dem 1. April kann jetzt auch ein Angestellter die Motive für seine Entlassung einfordern. Verweigert der Arbeitgeber das, dann wird eine Strafzahlung an den entlassenen Mitarbeiter fällig; im Gegenwert von zwei Wochen Gehalt. Wenn ein Arbeitsgericht zu dem Schluss kommt, dass die Entlassung grundlos erfolgt ist, dann wird eine Buße fällig, die 17 Wochen Gehalt entspricht.
Dabei gilt jetzt generell die "umgekehrte Beweislast": Der Arbeitgeber muss aufzeigen, dass die Entlassung gerechtfertigt war.
Ebenfalls im Zusammenhang mit dem Einheitsstatut gab es schließlich noch das Kapitel Pensionen. Die Rentensysteme von Arbeitern und Angestellten sollten einander angeglichen werden. Hier geht es um den sogenannten "Zweiten Rentenpfeiler", also die Zusatzrenten. Bis 2025 sollen der Einigung zufolge die Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten verschwunden sein; dadurch soll allen Arbeitnehmern eine Aussicht gegeben werden auf einen Rentenbonus neben der gesetzlichen Pension.
Alles in allem also ein sehr umfangreiches Paket, auf das sich die Sozialpartner geeinigt haben: Index, Pension, Kündigungsschutz, drei Einigungen in drei ziemlich heiklen Materien. Der Soziale Dialog, die Grundlage des belgischen Sozialmodells, er lebt also doch noch.
Inflation auf über 1 Prozent gestiegen
Zum ersten Mal seit fünf Monaten ist die Inflation in Belgien auf über ein Prozent gestiegen. Das Wirtschaftsministerium teilte mit, die Teuerungsrate habe im Januar bei 1,14 Prozent gelegen.
Die Zunahme sei vor allem auf höhere Preise bei Gemüse, Mieten, Kranken- und Feuerversicherungen zurückzuführen. Billiger wurden hingegen Flugtickets, Fleisch und Treifbstoff.
Reaktionen auf Sozialpartnereinigung
Die meisten der beteiligten Organisationen zeigten sich zufrieden. Das neue Kündigungsgesetz, das sei doch im Grunde überfällig, hieß es in einer Stellungnahme der Arbeitgeberverbände FEB, UNIZO, UCM und Agrofront. Niemand könne doch etwas gegen eine offene und transparente Kommunikation mit den Mitarbeitern haben.
Die christliche Gewerkschaft CSC hob ihrerseits die Anpassung des Index-Systems hervor. Der Index sei nicht beschnitten worden. An der Entwicklung der Löhne werde sich nichts ändern. Die FGTB sprach gar von Fortschritten, die man in dieser Sache erzielt habe. Der Verband der Technologie-Unternehmen, Agoria, sieht das anders: Man habe leider beim Index die teuerste Variante bevorzugt, beklagte Agoria.
belga/mh