"Formidable", großartig... Manchmal könnte man fast den Eindruck haben, man wäre - es muss irgendwann in den letzten Tagen gewesen sein - man wäre in einem anderen Land aufgewacht...
"Formidable"... Es ist schon seltsam. Der Begriff "Belgien" ist auch in Flandern plötzlich wieder salonfähig, positiv behaftet, "in". Ein Land, dem man vor zwei Jahren noch die Spaltung prognostiziert hatte, dieses Land steht wie ein Mann hinter der Fußballnationalmannschaft, im Übrigen ein perfektes Spiegelbild des Landes: Flamen, Frankophone, Deutschsprachige, mit oder ohne Migrationshintergrund, zusammen im gemeinsamen Freudentaumel. Und alle tanzen sie auf Stromae, den Brüsseler Künstler mit teils ruandischen Wurzeln, dem gerade erst die New York Times drei Seiten gewidmet hat. Stromae liefert den passenden Song: "Formidable", großartig...
Es ist, als hätte einer mal eben das Fenster aufgemacht. Wie die Zeitung De Morgen richtig analysiert: Es ist ein kollektiver Befreiungsschlag: Nach Jahren der existentiellen Krise, wo man sich von morgens bis abends anhören musste, wie tief das Land doch im Morast steckt, hatten die Menschen offensichtlich Sehnsucht nach einem gemeinsamen Erfolgserlebnis. Formidable, großartig...
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet jetzt zeigt die N-VA erstmals Schwächen. Die Popularitätskurve der Nationalisten hat einen sichtbaren Knick bekommen. Und plötzlich scheint der N-VA ihr Nimbus der Unverwundbarkeit abhanden zu kommen; bei einer Podiumsdiskussion geriet der Auftritt des N-VA-Schwergewichts Siegfried Bracke gar zur Lachnummer; der stramme Leutnant von Bart De Wever in der Unterhose, noch dazu von der VRT vorgeführt.
Auch, wenn die britische Zeitung "The Independent" titelte: "Belgische Fußballer kicken Nationalisten ins Abseits"; wer behauptet, das sei ein Verdienst der Roten Teufel, der schießt natürlich übers Ziel hinaus.
Nein, die N-VA ist vielmehr an innere und äußere Grenzen gestoßen. Zum einen ist der Zauber des Neuen verblasst. Vor allem scheitert die Partei aber derzeit an sich selbst. Sie sucht verzweifelt nach einer Strategie - man steht für Konföderalismus, im Detail erklären kann man das aber nicht; zudem fehlt eine Galionsfigur. Klar, es gibt Bart De Wever, nur ist der in seinem Wahlkampfversprechen, sprich: im Rathaus von Antwerpen gefangen.
Hinzu kommt: der augenscheinlichen Sehnsucht nach Optimismus stellt die N-VA eine miesepetrige, säuerliche, verkrampfte Grundhaltung gegenüber.
Für Premierminister Elio Di Rupo war die belgische Renaissance hingegen "die perfekte Welle". Im Parlament surfte er genüsslich darauf, erklärte flugs den Optimismus quasi zur Staatsreligion, und holte zu einer Selbstbeweihräucherung aus mit einer Qualm-Entwicklung wie ein Kohlekraftwerk. Das war sogar am Ende dem liberalen Koalitionspartner unangenehm: Die MR erinnerte den Premier in der anschließenden Debatte daran, dass es für Selbstzufriedenheit doch noch ein bisschen zu früh sei.
Tragisch-beispielhaft steht dafür - ebenfalls in dieser Woche - der Selbstmord des Lütticher Stahlkochers von ArcelorMittal, der an seinem Jobverlust zerbrochen ist. Optimismus? Zurückgewonnenes Vertrauen? In den Ohren der ArcelorMittal- oder Ford-Arbeiter und aller anderen Opfer der Krise, der Unternehmen, die ums Überleben kämpfen, für sie alle müssen diese Worte wie der blanke Hohn klingen.
Und doch sei dem Premier seine Good-News-Show zugestanden.
Erstens: Ganz objektiv betrachtet hat die Regierung eine durchaus stolze Bilanz vorzuweisen. Innerhalb von weniger als zwei Jahren hat diese Koalition mehr Eisen angepackt und geschmiedet als die meisten in der doppelten Zeit. Es hat ja niemand behauptet, dass damit alle Probleme gelöst wären; man darf aber den aktuellen Kontext nicht vergessen; es war – und ist wohl noch - die schlimmste Wirtschaftskrise seit 1929.
Und, zweitens: Wahlkampf hin oder her, Optimismus zu predigen und Vertrauen herauf zu beschwören, das ist – erst recht in Zeiten leerer Kassen - wohl die einzig probate Krisenmedizin. "Die große Depression", dieser Begriff lässt sich nicht umsonst ebenso gut auf die Psyche als auch auf die Wirtschaft anwenden.
Klar ist das alles nur ein Augenblick. Auch die perfekte Welle ebbt irgendwann ab. Die Roten Teufel werden auch wieder verlieren; der nächste gemeinschaftspolitische Streit kommt bestimmt. So schnell sich die Regierung obenauf wähnte und die N-VA in der Defensive war, so schnell kann sich das Blatt wieder wenden.
"Formidable" - wer genau hinhört, der stellt fest, dass der Stromae-Song eigentlich todtraurig ist. Und doch ist er eine Feierhymne. Eben der perfekte Soundtrack für eine belgische Momentaufnahme.
Bild: BRF