Ni Dieu, ni maître: Lippens, Votron und Co kannten keinen Gott, keinen Herrn, keinen Meister. Keine Grenzen. Ihr Wunsch war Gesetz. Und deshalb war es offensichtlich fast schon verboten, auch nur zu denken, dass die Fortis die Übernahme der niederländischen ABN-Amro-Bank vielleicht doch nicht verdauen konnte. Die tönernen Füße, auf denen der von ihnen erschaffene Riese stand, die wollten die Fortis-Bosse nicht sehen. Weil sie womöglich selbstverliebt an eine Form von göttlicher Fügung glaubten. Weil sie sich vielleicht für auserwählt hielten, unfehlbar, gottgleich.
Hauptgeschäftsführer Jean-Paul Votron schusterte sich noch im April 2008, kein halbes Jahr vor dem Untergang, ein stattliches Zückerchen zu: 2,5 Millionen Euro obendrauf; ein Bonus in dieser Höhe verstieß gegen die hausinternen Regeln, aber, ach... wer wollte ihm denn schon was vorschreiben? Belohnen wollte er sich unter anderem für den tollen Coup, den er gelandet hatte, besagte Übernahme von ABN-Amro, die der Fortis den Hals brechen sollte. Auch Aufsichtsratschef Maurice Lippens bekam seinerzeit einen netten Bonus.
Kritik, die deswegen sogar bei der Anlegerversammlung laut wurde, ließ man fast schon empört abprallen. "Man trägt doch schließlich Verantwortung, Verantwortung für das Unternehmen, Verantwortung für die Anleger, Verantwortung für 85.000 Mitarbeiter. Das muss doch entsprechend honoriert werden".
"Verantwortung", offenbar ein dehnbarer Begriff. Wie aus betriebsinternen E-Mails hervorgeht, die die Zeitungen L'Echo und De Tijd veröffentlicht haben, waren besagte gottgleichen Verantwortungsträger nämlich hinter den Kulissen längst wieder allzu menschlich geworden. Gleich dem Doktor Frankenstein, dem "modernen Prometheus", der sich ja auch für Gott hielt, hatten die Fortis-Bosse ganz offensichtlich die Kontrolle über ihre Schöpfung verloren. "Ich habe Angst", schreibt Lippens schon im Juni 2008, drei Monate vor dem Absturz. Fünf Tage vor dem Ende hat immer noch niemand einen Plan, niemand wirklich den Ernst der Lage erkannt. "Wir brauchen einen Partner, müssen mit einer anderen Bank fusionieren", schreibt der eine Abteilungsleiter. Der andere empfiehlt lediglich den Verkauf einiger Betriebssparten. Dabei brennt der Dachstuhl schon lichterloh.
Der damalige Premier Leterme erinnert sich, dass die Fortis-Verantwortlichen die Risiken nicht mal ansatzweise beziffern konnten. Das sei eine Blackbox, ein Buch mit sieben Siegeln, gab man ihm zu verstehen. Der Chef der Bankenaufsicht soll, als er im Herbst 2008 die Daten der Fortis studierte, einen Wutanfall bekommen haben: "Das ist eine unfassbare Saftklitsche ", zitiert ihn L'Echo sinngemäß.
Das einstige Kronjuwel der belgischen Finanzwirtschaft, zu einer Saftklitsche verkommen. Verantwortlich dafür war freilich niemand. Schuld sind die anderen: Äußere Umstände, die Finanzkrise, Lehman-Brothers, die Bankenaufsicht, die nicht aufgepasst hat, die Medien, die Öffentlichkeit, die Märkte, all jene, die ein Problem gesehen haben, wo doch gar keins war.
Niemand hat Fehler gemacht. Und gelogen hat auch keiner. Dass die Fortis tagelang, wochenlang der Öffentlichkeit und den Anlegern ihre wahre Situation verschwiegen, mitunter gar schöngeredet hat, dass eine überlebenswichtige Kapitalerhöhung von Maurice Lippens als Fußnote, reine Vorsichtsmaßnahme umgedeutet wurde, alles bloßes Gerede. Für alles haben die Herren eine Erklärung parat. Und zwischen den Zeilen steht da: Ihr Normalsterblichen wollt Euch doch nicht anmaßen, unser Geschäft zu verstehen. Das ist alles viel komplexer, als es dem Laien erscheinen mag.
Das ist sogar denkbar. Ohnehin liegt nicht am einzelnen oder an der Presse, über Menschen zu richten. Dafür gibt es die Justiz.
Allerdings: Der Auftakt vor der Brüsseler Ratskammer, die sich ja nach wenigen Minuten schon vertagen musste, verheißt erstmal nichts Gutes. KBLux lässt grüßen... Es scheint schon wieder darauf hinauszulaufen, dass auch dieser Finanzprozess am Ende versanden wird, das man sich von Formfehler zu Formfehler in die Verjährung hangelt. Die stünde 2018 an. Fünf Jahre sind bei der Brüsseler Justiz ein Wimpernschlag.
Das darf die Justiz nicht zulassen, eine Verjährung, das wäre gerade im vorliegenden Fall die Katastrophe nach der Katastrophe. Der Absturz der Fortis, das war keine Privatsache, das war keine verlorene Monopoly-Partie, hier geht es nicht um die Eitelkeiten der Herren Votron und Lippens. Hier geht es um tausende Menschen, deren Kapital in Rauch aufgegangen ist, auch, weil man ihnen die Wahrheit vorenthalten hat. Hier geht es um die Mitarbeiter, deren Lebensunterhalt bei den Vabanque-Spielchen in der Waagschale lag; hier geht es um den Finanzplatz Belgien, dessen Image ruiniert ist; hier geht es um einen Staat, eine öffentliche Hand, den Steuerzahler, die für den Crash der Fortis die Zeche zahlen mussten.
Ohne das Urteil vorwegnehmen zu wollen, aber dafür müssen sich die Verantwortlichen eben... verantworten. Den Herren Votron und Lippens, und auch allen anderen, die den Bezug zur realen Welt verloren haben und die gesellschaftliche Tragweite ihrer Handlungen nicht mehr realisieren, die sich faktisch für gottgleich halten, all denen muss klargemacht werden, dass selbst sie sich der Justiz der Sterblichen nicht entziehen können...