Über eine ganze Reihe von anderen gesellschaftspolitischen oder sozialwirtschaftlichen Phänomenen gibt es in Belgien überhaupt keine verlässlichen Daten. Fast schon traditionsgemäß bombardieren die belgischen Zeitungen ihre Leser mit Statistiken aller Art. Ein Plus von 13,4 Prozent hier, ein Minus von 16,75 Prozent da. Pillenkonsum, Röntgenbilder, Gurtmuffel, alles haben wir in den letzten Tagen und Wochen interpretiert bekommen.
Umso erstaunlicher ist die Feststellung von Philippe Defeyt, Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Co-Vorsitzender von Ecolo. "Die Statistiken in diesem Land sind bestenfalls amateurhaft, wenn nicht gar inexistent", sagt Defeyt.
Wie viele Arbeitslose gibt es in Belgien? Eigentlich sollte man das doch schnell herausfinden können. Man glaubt es kaum, aber je nach Quelle kommen vollkommen unterschiedliche Zahlen heraus. Das so genannte Planbüro nennt die Zahl 560.000, offiziell ist von 370.000 die Rede.Er kenne einen Teil der Erklärung, sagt Philippe Defeyt in der RTBF. Entscheidend sei hier die Frage, wer dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und wer nicht. Da gebe es aber durchaus auch Unterschiede, die durch nichts zu erklären seien. Die Zahl der Selbständigen etwa variiert je nach Quelle ebenfalls um 100.000 Einheiten, hierdurch würden aber die Arbeitslosenstatistiken entscheidend verfälscht.
Dabei sollten Statistiken doch ein entscheidendes Hilfsmittel für jeden Politiker sein. Wie soll man ein Problem angehen, wenn man gar nicht genau weiß, welche Parameter da im Spiel sind? Philippe Defeyt gibt ein Beispiel: Viele Länder untersuchen das Phänomen der Jugendlichen, die quasi an der Seitenlinie stehen: Schule abgebrochen, kein Job, keine Ausbildung und auch nicht am Arbeitsamt gemeldet. Man spricht hier von der "verlorenen Generation". Wer ist das? Welches Profil haben diese jungen Menschen. Was machen die eigentlich? In Belgien hat man schlicht und einfach keine Ahnung.
Ohne verlässliche Zahlen, keine zielgerichtete Politik. Eine neue Maßnahme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit wird beschlossen. Doch wenn die einmal umgesetzt werden soll, stellt man fest: Eine ganze Reihe von Jugendlichen kommt für die Maßnahme nicht in Frage, weil sie nicht die Kriterien erfüllen. Wie viele? Fragezeichen.
Anderes Beispiel: der Bausektor
Die Branche leidet unter der Wirtschaftskrise. Wo geht die Reise hin? Dafür müsste man wissen, wie viele Haushalte es in Belgien für wie viele Wohnungen gibt. Wie viele Wohnungen stehen leer? Wofür? Hier gehe es also nicht nur darum, die Politik effizienter der Realität anzupassen, sondern auch um entscheidende Fragen über die wirtschaftliche Entwicklung.
Die Liste dieser offenen Fragen ist lang. Wie viele Analphabeten gibt es in Belgien? Zehn Prozent, sagt man. Das Problem: Es gibt keine Studie, keine Statistik, die das belegt. Dabei wäre es mitunter gar nicht so schwer, aussagekräftige Zahlen zu bekommen. Man müsste lediglich verschiedene Statistiken mal übereinanderlegen, fordert Philippe Defeyt.
Illustriert an einem Beispiel, der Frage: Über wie viel Geld verfügt ein Durchschnittshaushalt in Belgien? Man weiß es nicht. dabei müsste man doch nur die Steuererklärungen mit dem Nationalregister abgleichen, um zu sehen, wer lebt mit wem zusammen und wie viel verdienen diese Leute. Diese Daten könne man ermitteln, ohne im Privatleben der Menschen herumzustöbern.
Woran liegt es? Die Gründe sind vielfältig. Erstmal sind sie politischer Art: Gewisse Statistiken würden gegebenenfalls das Scheitern einer Politik schwarz auf weiß dokumentieren. Für das Zeugnis des zuständigen Ministers keine schöne Sache. Dann gibt es auch wirtschaftliche Gründe: Gewisse Branchen rücken ihre Zahlen nicht raus, weil sie wissen, dass das ihnen auf Dauer schaden kann. Ein Problem sei aber auch, dass es in Belgien keine "Statistik-Kultur" gebe. Man macht Jahr ein, Jahr aus dasselbe, ohne sich Fragen zu stellen und ohne eine gesunde Neugier, neue gesellschaftliche Entwicklungen wirklich zu hinterfragen.
Es fehlt darüber hinaus an finanziellen und personellen Mitteln. Dabei ist Philippe Defeyt ehrlich und fasst sich an die eigene Nase. Er ist ja nicht nur Ökonom, sondern auch Gemeindeverantwortlicher. Genau gesagt ist er Präsident des Sozialhilfezentrums von Namur.
Bild: Bruno Arnold (belga)
Muss der Staat denn alles wissen?
Vor einigen Jahren wurde ich auch von EUROSTAT befragt. Auf ungefähr beantwortete ich auch alle Fragen, aber müssen die denn auf Heller und Pfennig alles genau wissen? Will die Politik das wissen, um noch besser eine Planwirtschaft zu installieren? Um noch besser zu kontrollieren? Um noch mehr Vorschriften zu erlassen, den Alltag "noch besser" regulieren? Haben die Beamten der EU noch nicht genug Statistiken, um sich noch mehr dämliche und sinnlose Verordnungen in den Sinn kommen zu lassen?
Ist dieser Ecolo-Politiker Philippe Defeyt wirklich "Ökonom"? Die Marktwirtschaft ist dadurch gekennzeichnet, das man nicht alles voraussehen kann. Anstatt die Wirtschaft noch mehr zu regulieren, sollte vielmehr freie Marktwirtschaft walten. Die jetztigen Statistiken reichen meistens vollkommen aus für die Politik. Und wenn die Statistika genauer wäre, würde die Politik uns Bürgern denn besser "helfen"? Denkste.
Übrigens: EUROSTAT wird mit Statistiken aus allen EU-Staaten versorgt.
EUROSTAT hat den Rang einer Generaldirektion der Europäischen Kommission und ist dem Kommissar für Wirtschaft und Währung zugeordnet.
BIG-BROTHER läßt grüßen. Willkommen in der EUdSSR.
Marktwirtschaft ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der, der die besseren Informationen hat, einen Wettbewerbsvorteil hat. Google, Facebook und all die anderen wissen mehr über Guido Scholzen, als es Guido Scholzen lieb ist. Was ist an der freien Marktwirtschaft noch frei?
Wenn Herr Defeyt durch sein langjähriges wissenschaftliches und solziales Engagement zum Schluss kommt, dass er für seine politische Aktion noch bessere Statistiken braucht, dann spricht das eher für ihn. Andere halten es nicht für nötig, sich auf Fakten zu berufen, um Entscheidungen zu treffen. Sind das für Sie die besseren Politiker?
Herr Braun, mit allem Respekt, aber Sie verstehen meine Kritik nicht ganz.
Auch ich hätte gerne eine richtige Arbeitslosenstatistik ohne Verfälschungen. Es geht vielmehr darum, was darf der Staat wissen und was nicht.
Sie gehen recht in der Annahme, dass Google,... viele Infos über jeden gesammelt hat. Holen wir z.B. diese Online-Informationen. Hat der Staat etwa auch das recht, diese Informationen zu haben? Nein.
Es geht hier bei diesen "Statistiken" um mehr als nur allgemeine Informationen. Der Staat gibt an, er müsse "planen" zum Wohle des Bürgers, aber in Wirklichkeit werden diese Informationen gebraucht, um uns Normalos noch besser zu kontrollieren. Ein "Programm PRISM" wäre das Endresultat, wenn der Staat "bessere Statistiken" will.
Der Fall Snowden sollte zu Denken geben.
Wollen Sie ein gläserner Mensch sein?
Wie geschrieben, ich wurde vor ein paar Jahren mal "ausgefragt" zum Wohle von EUROSTAT. Das hat mir gereicht, zu mehr öffentlicher Info bin ich nicht unbedingt bereit.
Hat der Staat etwa seine eigenen Ämter und Institutionen nicht im Griff, um genaue Arbeitslosenzahlen, etc... zu ermitteln?