"Unser Land hat in der Nacht seinen König verloren und bleibt verwaist zurück": Premierminister Dehaene gibt nach dem Tod von König Baudouin am 31. Juli 1993 die Nachricht offiziell bekannt. Der Schock sitzt tief. Viele Menschen haben nie einen anderen König gekannt, Baudouin war ja schon 43 Jahre auf dem Thron. Genau gesagt waren es nur 42.
Sommer 1950: die Königsfrage erreicht ihren Höhepunkt. Leopold III. kehrt aus dem Exil zurück. Nach dem Krieg war er zunächst nicht willkommen, viele warfen ihm sein Verhalten während des Krieges vor. Weil sich Leopold alle Türen offenhalten wollte, hatte er zeitweise auch die Nähe zu den Besatzern, zu Nazideutschland gesucht. Zumindest mochte es so aussehen.
Zwar hatte sich die Bevölkerung im Rahmen einer Volksabstimmung für Leopold ausgesprochen, das Ergebnis erklärte sich aber durch die Haltung der Flamen, die Wallonen waren mehrheitlich dagegen. Es kam zu Ausschreitungen. Leopold übertrug seinem Sohn faktisch die Amtsbefugnisse, Baudouin wurde am 11. August zum "Königlichen Prinzen". Erst am 17. Juli 1951 leistete Baudouin den Eid auf die Verfassung, als fünfter König der Belgier.
Bewegte Kindheit
Baudouin, am 7. September 1930 geboren, war da knapp 21 Jahre alt. Und sein Leben war bis dahin alles andere als "märchenhaft". Am 29. August 1935 stirbt seine Mutter, die von den Belgiern vergötterte Königin Astrid, bei einem Autounfall in Küssnacht in der Schweiz. Baudouin ist erst fünf Jahre alt. Er ist neun, als Nazideutschland am 10. Mai 1940 Belgien überfällt. Die Königskinder gelangen in einer abenteuerlichen Flucht nach Frankreich, später nach Spanien.
Die Kriegsjahre verbringen Baudouin, seine ältere Schwester Joséphine-Charlotte und sein jüngerer Bruder Albert später noch eher unbeschwert in Brüssel, bevor sie nach der Landung der Alliierten 1944 auf Befehl von Heinrich Himmler nach Deutschland verfrachtet werden. Nahtlos geht es nach dem Krieg ins Exil in die Schweiz.
Und dann, 1951, mit einem Mal König - le roi triste, der "traurige König", wie man ihn in den ersten Jahren nannte. Bis er Doña Fabiola de Mora y Aragón kennenlernt, eine spanische Adelige. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Am 15. Dezember 1960 geben sich beide das Ja-Wort. Es ist ein sichtbar harmonisches Paar, Baudouin und Fabiola verbindet zudem der tiefe Glaube an Gott.
Die ersten Jahre der Amtszeit Baudouins sind ganz von der Kongo-Politik geprägt. 1955 war der König dort noch wie ein Messias empfangen worden, am 30. Juni 1960 entließ Belgien dennoch widerwillig die Kolonie in die Unabhängigkeit. Ein halbes Jahr später wird Patrice Lumumba, der Premier des jungen Landes, ermordet. Dass belgische und amerikanische Geheimdienste hier ihre Finger mit im Spiel hatten, gilt als sicher, mittlerweile gehen manche Forscher davon aus, dass Baudouin mindestens davon gewusst hat. Das stünde in schrillem Kontrast zu seiner späteren Geisteshaltung.
Königsfrage
Baudouin bekannte sich auch in seiner Amtsführung offen zu seinem katholischen Glauben. Das gipfelte 1990 in einer neuen "Königsfrage". Im Mittelpunkt: das Gesetz, das die Abtreibung unter gewissen Bedingungen legalisiert. König Baudouin muss eigentlich das Gesetz gegenzeichnen, damit es rechtskräftig wird, kann das aber mit seinem Gewissen nicht vereinbaren.
Am 30. März 1990 schreibt Baudouin dem damaligen Premierminister Wilfried Martens einen Brief, den Martens dann im Parlament verliest.
"Ist es normal, dass ich der einzige Belgier bin, der verpflichtet ist, gegen sein Gewissen zu handeln?" wendet sich der König an seine Kritiker. Die Regierung findet einen umstrittenen Kunstgriff: Artikel 93 der Verfassung, damals noch Artikel 82. Der betrifft die, so wörtlich, "Unmöglichkeit zu herrschen", die Regierungsunfähigkeit. Ironie des Schicksals: Es war genau dieser Artikel, der bei Baudouins Vater Leopold angewandt worden war, um ihn quasi "vom Thron fernzuhalten".
König Baudouin wurde auf dieser Grundlage für "regierungsunfähig" erklärt und das Gesetz durch die Regierung in Kraft gesetzt. Am 5. April 1990, nach 36 Stunden "Regierungsunfähigkeit, war Baudouin wieder im Amt. Diese Episode polarisiert bis heute. Für die einen war es ein Akt der Größe, andere werfen dem König vor, eine Rote Linie überschritten und sich über seine Rolle hinweggesetzt zu haben. Ohnehin war Baudouin noch ein König, für den es irgendwie selbstverständlich war, der Politik des Landes seinen Stempel aufzudrücken. Bruder und Nachfolger Albert war da erheblich zurückhaltender.
Gegenseitige Liebe
Moral, Gerechtigkeit, Familie, Humanismus, das waren die Werte, die Baudouin besonders am Herzen lagen und die er in seinen zahlreichen Reden immer wieder hervorhob. König Baudouin legte Wert auf den Kontakt mit der Bevölkerung. Und man konnte meinen, dass er, dessen Ehe zu seinem und seiner Frau Leidwesen kinderlos geblieben war, dass dieser Baudouin seinem Land und seinen Bürgern gegenüber fast schon väterliche Gefühle gehegt hat.
Spätestens am 31. Juli 1993 hat sich gezeigt, dass das irgendwie auf Gegenseitigkeit beruhte. Hunderttausende erwiesen König Baudouin in den Tagen nach seinem Tod die letzte Ehre. Das gilt auch für viele deutschsprachige Belgier, für die Baudouin immer mehr als nur ein paar Worte übrig hatte. Zwar steht seine Amtszeit 20 Jahre nach seinem Tod nicht mehr für alle in uneingeschränkt glanzvollem Licht. Dass Baudouin ein großer Mann war, und ein ebenso großer König, das dürften aber selbst seine schärfsten Kritiker anerkennen.
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